Oliver Ménard
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Hässlich

3/10/2014

 

ICH BIN SO HÄSSLICH ...

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Manchmal gibt es Geschichten, die fangen ganz harmlos an - und später, viel, viel später, versuchen wir uns zu erinnern, wie das Desaster eigentlich begonnen hat und warum wir es nicht sofort erstickt haben, als würden wir mit der flachen Hand auf eine brennende Kerze schlagen. Sicher, es tut  einen Moment weh - dafür ist es aber wenigstens schnell vorbei.
Diese Geschichte beginnt bei meinem Lieblingsitaliener. Claudine sitzt mir seit anderthalb Stunden gegenüber und redet und redet. Ich weiß im Zeitraffer praktisch alles über die missratenen Online-Dating-Versuche ihrer besten Freundin (kein Wunder, wenn man mich fragt) , die neue Zahnspange ihres schwulen Friseurs (bringt bei den krummen Hauern sowieso nichts) und die Abenteuer einer befreundeten Stewardess, die sich schwerreiche Männer vorzugsweise in den Reihen 1-3 der First Class wegangelt (zweifelsohne die interessanteste Geschichte).
Claudine brabbelt ohne Unterbrechung, wie ein plätschender Niagarafall, und dann stoppt sie, als wäre alles Wasser dieser Erde mit einem Schlag versiegt.  Sie blickt in die Fensterscheibe des Restaurants, legt ihre Stirn in Falten und zerrt mit den Fingerspitzen an ihrer Haut.
"Sag mal ...", zwei Worte nur, in denen sich aber ein Jahrhundete alter Schrecken eingenistet hat.
Sie hält sich ein Milchkännchen aus Chrom vor das Gesicht und starrt mit riesigen Augen in die reflektierende Oberfläche. Es erinnert mich an eine Dokumentation über frei lebende Gorillas, die sich selbst zum ersten Mal in einem Spiegel betrachten.
"Na also ... das ist doch ... mein Gott ... wo kommt das her ... das ist ... unfassbar"
"Du hast da einen Schokokrümel im Mundwinkel, soll ich den ...?"
"Mann, das da oben, das ist eine Falte an meiner Stirn. Wo kommt die her? Die war doch vorhin nicht da. Was soll der Scheiß?"
In dem schummrigen Licht des Restaurants ist eigentlich nicht viel  zu sehen.
"Meinst du diese kleine Falte da, die wie ein Strich aussieht?"
"Aha", sie knallt das Kännchen auf den Tisch, Milch schwappt auf mein Handy,  sie verengt die Augen zu Schlitzen. "Du siehst es also auch. Die Falte ist wirklich da. Ja?"
An dieser Stelle hätte ich laut rufen müssen, Quatsch, da ist nichts. Unsinn. Stattdessen sage ich, "ist doch nur eine klitzekleine Falte. Ganz klein, wirklich  ..."
"Das kann ich nicht akzeptieren. Die war  irgendwann mal nicht da. Ich will so was nicht. Die muss da weg. Irgendwie."
Zwei Tage und 14 Stunden später öffne ich die Tür zu meiner Wohnung. Claudine hat ein Handtuch um ihre Haare gebunden, ihr Kopf ist knallrot. Die Haut in ihrem Gesicht sieht schuppig aus, als würde der Herbstwind lose Blätter durch Berlins Straßen pusten.
"Und?", ruft sie mit einer ordentlichen Portion Euphorie in der Stimme.
Auf diese Antwort kommt es an. Ich spüre es. Das leichte Zittern in meinen Händen ignoriere ich. "Ja, ist gut, wirklich ...", und ich verberge meine Ahnungslosigkeit hinter jahrelang antrainierter Heuchelei.
"War ein knallhartes Chemopeeling. Brennt wie die Hölle. Ach was, viel schlimmer noch, aber hier..." sie hält mir ein Lineal hin, und ich nehme es wie ein Steinzeitmensch in die Hände, dem man gerade ein Tablet herüberreicht.
"Miss nach. Mach mal. Na, los ..."
"Was?"
"Na, die Falte. jetzt mach schon ..."
Ich lege das Lineal an ihre Stirn. Ich messe eine Länge von 3,3 Zentimetern. "Also ... ich würde mal sagen ..."
"Na? Was ? Wieviel, hm?"
"2,9 Zentimeter ... vielleicht sogar ein bisschen weniger", den Frendschaftsbonus habe ich gleich abgezogen.
Sie klatscht so heftig in die Hände, dass ein kleines Meer aus Schuppen aus ihrem Gesicht fällt. "Siehst du? Die krieg ich noch ganz weg. Habe ich es dir nicht gesagt?"
Hat sie.  In den nächsten zwei Tagen ist ihr Ehrgeiz so sehr angeschwollen, dass sie mit aller Gewalt auf einen Zentimeter herunterkommen will. Draußen, in der Sonne, trägt sie eine weiße, schützende Creme. Passend mit der dazugehörigen schwarzen Sonnenbrille erinnert sie mich an ein in Prenzlauer Berg gestrandetes Gothik-Biest. Wenn sie über die Straße geht,  schwenken Mütter ihre Kinderwagen sofort in eine andere Richtung.
Und dann, an einem folgenschweren Donnerstag,  klopft die Ernüchterung an meine Haustür, und ich mache ihr auf.
"Weißt du was passiert ist? Weißt du es? Es sind wieder 3,9  Zentimeter. Ich flipp noch aus. Jetzt mache ich Ernst. Jetzt reicht es."
Einen Tag später sitze ich mit ihr in einer Praxis. Aus einem albern chinesisch anmutenden Brunnen läuft Wasser über blank polierte Steine. Der Doktor begrüßt Claudine wie eine verloren geglaubte Schwester, nach der man jahrzehntelang gesucht hat.
"Schön, dass Sie da sind. So eine Botox-Injektion ist ja nur eine kleine Sache. Klitzeklitzeklein, kein Grund zur Sorge."
Ich mag ihn nicht. Seine Haare wirken unnatürlich dicht. An seiner Haarlinie sehe ich viele kleine dunkle Punkte, die auf eine verpfuschte Haartransplantation hindeuten. Sein Gesicht ist so glatt, dass man es selbst als Kinderloser sofort wie einen Babypopo pudern möchte. Er verschwindet mit Claudine im Nebenzimmer. Ich bleibe alleine mit dem nervenden Chinabrunnen zurück. Aus meiner Tasche ziehe ich einen Energydrink. Verschlusslasche weg und ein tiefer Schluck. Ich brauche Kraft.
Die Assistenten des Doktors blickt mich aus entzürnten Augen an.
"Das ist aber nicht gesund, was Sie da trinken." Sie ist über vierzig, ebenfalls mit spiegelglattem Gesicht und einer Oberweite, die die Gesetze der Schwerkraft lauthals verhöhnt.
"Aber Schlangengift in der Stirn ist eine echte Therapie, was?"
Sie pustet die Luft wie einen Orkan aus. "Wir helfen den Menschen, die zu uns kommen. Warten Sie mal ab. Ein paar Jahre drauf, da kommen Sie hier vielleicht auch vorbei", und dann läuft sie um ihren Tresen herum, stützt ihre Händen in die Hüften und betrachtet mich wie unter einem Mikroskop.
"Sie sind ein Schlupflid-Typ. Ihre Augenlider erschlaffen vielleicht bald noch mehr. Das kann nicht mehr lange dauern. Das könnten Sie hier machen lassen. Ist nur ein kleiner Eingriff. Das dauert gerade mal 15 Minuten."
"Ich habe gute Ohren. Wenn ich weniger sehe, stört mich das nicht."
"Wenn Sie es schon ansprechen. Ihre Ohren gehen sehr spitz nach oben, die könnte man unten etwas anlegen. Gibt eine bessere Linie."
"Hat das Vorteile, wenn ich mir einen Pullover über den Kopf ziehe?"
Ihr Schnaufen ist laut und endgültig, als sie wieder hinter ihrem Tresen verschwindet und mich, den Freak, der einfach nicht will, mit verborgenen Blicken mustert.
Im Zimmer am Ende des Ganges höre ich Claudines Stimme.
"Ah. Oh. Aua... "
Das muss ich mir angucken. Die Tür ist nur halb verschlossen, und da sitzt sie. Auf einem Behandlungsstuhl. Ihre Hände sind um die Lehne verkrampft. Der Doktor hält die Spritze wie ein Messer in der Hand. Immer wieder sticht er zu und versenkt die viel zu lange Nadel in ihrer Stirn, behämmert sie wie ein irrer Hufschmied, der an seinem Meisterstück arbeitet. Es ist grausam. In diesen Sekunden wünsche ich mir gewaltige Schlupflider herbei, die wie eine fleischige Masse über meine Pupillen fallen. Natürlich weiß ich, dass ich die Milde der vergehenden Jahre brauchen werde, um diese Bilder wieder zu vergessen.
In den folgenden Tagen wirkt Claudine höchst zufrieden. Das Lineal verschwindet in der Schublade meines Schreibtisches. Ihre Haut sieht wieder menschlich aus. Als sich die Stirnfalte endlich in ein mickriges Überbleibsel einer kurzzeitigen alterstechnischen Verstimmung verwandelt hat, lädt sie mich zum Essen ein.
Die Kerzen auf dem Tisch des Italieners flackern. Das Tiramisu wird über den Teller gekleckert. Der Rotwein schwappt munter hin und her. Nur für einen kurzen Moment wird die Schönheit des Abends unterbrochen, als Claudine ihre Reflektion im Fensterglas betrachtet.
"Du, sag mal ... "
"Ja?"
"Spinne ich, oder ist mein rechtes Augenlid etwas tiefer als mein linkes?"
Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten. Da hat Albert Einstein zweifelsohne Recht gehabt, und diesmal bin ich schlauer.
"Ach was, da ist nichts. So ein Quatsch. Du hast zwei hübsche, symmetrische Augen. Fast schon perfekt. Eigentlich langweilig, aber auch hübsch."
Sie lächelt zufrieden und versenkt ihre Gabel im Tiramisu. Na bitte, geht doch. Soll doch keiner sagen, dass ich nicht lernfähig bin.
Wobei, wenn ich ganz ehrlich bin ... also ...  das rechte Augenlid erscheint mir tatsächlich ein ganz kleines bisschen tiefer als das linke ... nur ein ganz kleines bisschen ...

Gemein

2/12/2014

 

HÄSSLICH UND GEMEIN: DIE SCHEUSSLICHSTEN BERLINER EVER

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Heisses Zeugs

2/10/2014

 

SEX, LÜGEN UND HEISSES ZEUGS

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"Kalt da draußen, was? `n bisschen Hitze wär jetzt schön, oder? Oder?" 
Die Augen meines Videothekenmannes sind zwei glutfarbene Spiralen, rotierend und gewaltig wie die eines indischen Hypnotiseurs, die sich in mein Hirn bohren wollen, um von mir Besitz zu ergreifen. Er ist ein Kiez-Körperfresser, ein Seelenfänger auf der Jagd.
"Komm, wir gehen in die Sauna", haucht er die Worte über die Theke. "Das wird dir gefallen. Da ist ein Yoga Studio um die Ecke mit ganz süßen Chicks, tolles Ding, sag´ich dir. Ich seh die da immer vor dem Haus rumstehen. Totaler Frauenüberschuss. Genau richtig", flüstert er - und noch einmal mit Nachdruck und zischelndem Zungenschlag: "Chickssss". 
Es passt mir nicht. Ich schweige. G. schlägt sich die flache Hand vor die Stirn. Es entstehen Geräusche, die einem Schlagzeug nicht unähnlich sind. "Ich bin Single, mann, ich muss was tun ...", ruft er in die leere Videothek, und von den Wänden hallt sein verzweifelter Schrei wider.
Na und? Ist doch nicht mein Problem. Außerdem kann ich Sauna-Anlagen nicht ausstehen. Schwitzige nackte Körper, die öffentlich im Halbdunkeln voller Lethargie vor sich hin stöhnen, sind so gar nicht mein Ding. Und Argumente habe ich auch noch:
"Wir sind hier in Prenzlauer Berg. In der Sauna findest du nur Familienmuttis. Die putzen den ganzen Tag die Felgen von ihren Luxus-Kinderwagen, schlürfen Capuccino und warten auf ihre Ehemänner.  Was willst du da denn beziehungstechnisch abgreifen?"
Natürlich ist es frech überzogen, aber ich will nun mal nicht in die Sauna. Auf gar keinen Fall. G. kräuselt die Nase als würde er an verschimmeltem Käse schnuppern.
"Na gut, dann will ich eben nur eine Affäre. Reicht doch auch, oder?" Er streckt seinen 1.60 Meter Körper gewaltig in die Höhe und trommelt sich auf den Bauch.
"Ich kann nicht mit. Ich habe keinen Bademantel."  Obendrauf packe ich noch ein endgültig wirkendes Schulterzucken.
G. lächelt und zieht unter seiner Theke ein zusammengelegtes Handtuch hervor. "Brauchst du nicht. Das hier reicht." Er rollt das Handtuch mit einer schwungvollen Bewegung aus. Auf dem Stoff ist ein selbstzufrieden grinsender Bär mit Collegejacke und Basketball unter der befellten Hand zu sehen. Passend dazu präsentiert  mir G. zwei lilafarbene Badelatschen.
"Mein Gott", ich wende mich mit einem Gefühl des Ekels ab. Magenkrämpfe habe ich auch. Und Kopfschmerzen.
G. zieht die Mundwinkel nach unten und lässt die Schultern fallen. Seine blauen Augen sind betrübt.  "Wer besorgt dir deine alten französischen Schwarz-Weiß -Filme? Wer hat immer ein Tütchen Erdnüsse, wenn du nachts einen kleinen Imbiss brauchst? Ich bin dein Lieblingsvideothekenmann. Nun sollst du einmal was für mich tun, und dann ..."
Er feuert eine doppelte Portion  Gewissensbisse auf mich ab, weil er weiß, dass das bei mir blendend funktioniert. Immer. Wirklich ausnahmslos. Im Klartext: Ich bin verloren. Erledigt. Zerfetzt in alle Einzelteile.
Genau 38 Minuten später sitze ich in der Sauna, um meine Hüften baumelt das verhasste Bärenhandtuch.  Neben mir hockt G.. Auf seinem Oberam klebt ein riesiges Pflaster. Immer wieder streicht er es gerade. Ich weiß auch, warum.
"Du hast das Tattoo mit dem Namen deiner Exfreundin abgeklebt. Findest du das nicht peinlich?", flüstere ich in sein rechtes Ohr.
"Soll ich es hier allen zeigen? Neee, neee, Strategie, mein Lieber."
Für mich ist es nur ein gewaltiges Lügenwerk , aber ich sage es G. nicht. (Und wer das Tattoo-Desaster in seiner ganzen Pracht nachlesen möchte - bitte sehr … mit einem Klick geht es hier in den Wahnsinn.)
Mit uns in der Sauna sitzen zwei  dürre blonde Frauen um die vierzig. Sie haben beide spinnenartig lange Finger, mit denen sie ihre Worte, jedes einzelne, unterstreichen. Es sind viele Worte, und darum ist es auch eine wilde Fuchtelei. Hektisch und irgendwie gar nicht entspannend.
"Also, der Rashid ist der beste Yoga-Lehrer, den ich jeeeeeee hatte" , die linke Blondine nickt sich selbst zu " ... der allerbeste, wirklich", kommen die Wörter zwischen ihren riesigen Zähnen hervor und so laut, dass wir es mithören müssen.
Ich bezweifel, dass der Kerl wirklich Rashid heißt. Wahrscheinlich nur so ein Frank aus Marzahn, der sich für die beiden eine indische Tarnung zugelegt hat. Hat gut geklappt. Für die Beiden reicht es.
Ihre blonde Freundin nickt so schnell wie ein Vogel, der Körner aufpickt. "Also, wie der die Heuschrecke macht. Absolut perfekt. "
Ich werfe G. einen meiner versteinerten Blicke zu. Er reagiert nicht. Er fixiert die Blondine mit den Hasenzähnen und nickt einfach frech mit. Er hat sich offenbar für seine Beute entschieden. Dann schlägt er zu:
"Ist schon schwer einen guten Yoga-Lehrer zu finden. Ich habe eine ganze Weile gebraucht, um das  Hot-Bikram-Yoga zu verinnerlichen", sagt er.  Und nach dieser ungeheuerlichen Aussage klopft er sich zufrieden auf den schweißnassen Bauch, während die beiden Blondinen voller Euphorie fast von der hölzernen Sitzbank kippen.
"Ach, das beherrschen sie jetzt?",  ruft die eine.
"Das wollte ich auch schon immer lernen",  brüllt die andere.
Es ist ein Freudenfest der Sinne in der 90-Grad-Folterkammer ausgebrochen.  Das Schauspiel von G. ist perfekt. Die Chicksssss wissen nicht, dass G. Horrorfilme liebt, niemals einen Yoga Kurs besucht hat und sich sein Fachwissen grundsätzlich aus der Bild anliest. Reicht ja auch. Wozu studieren? Zeitverschwendung.
Die drei scherzen und albern, und nach weiteren unerträglichen drei Minuten steht G.´s Opfer auf: "Ich geh jetzt einen grünen Tee trinken." Sie lächelt, und ihre Zähne wirken wie zwei riesige weiße Stanzen in einer Fabrik.
"Ach, ich nehm auch einen", juchzt G..
Tür auf. Kalter Wind. Tür zu. Ich bin allein. Fast. Die andere Blonde ist wie ein freudloses Überbleibsel auf einer Tanzparty zurückgeblieben und blickt mich so ernsthaft an, als ob ich den geistreichen Dialog über Yoga-Techniken fortführen müsste. Tu ich aber nicht. Ich starre wie festgetackert auf die Fratze des kleinen Bären, der mich kopfüber vom Handtuch anblickt.
Und dann - schon wieder:  Tür auf. Eiskalter Hauch. Tür zu. Aufguss.
Ein Typ mit dunklem, hochtoupiertem Haar schwenkt seinen Holzlöffel in der Mitte der Sauna und brüllt: "Ist eine feine Wodkamischung. Was ganz spezielles. Das wird Ihnen gefallen."
Die Blonde kreischt genauso laut zurück: "Waaaas? Nein,  auf keinen Fall. Keinen Alkohol, also bitte, ja ...?"
Ich bin irritiert. Es ist eine Sauna. Es ist üblich. Ich will meinen Wodka, und ich bin bereit für ihn zu kämpfen. Einfach nur aus Prinzip. "Also, ich würde mich über den Aufguss freuen."
"Ich aber nicht." Sie sagt es mit bedrohlichem Unterton.
"Ich schon." Dummerweise klinge ich dabei wie ein trotziges Kleinkind.
"Ich möchte diese Jasmin-Mischung, die es hier immer gibt."  Sie fuchtelt mit der flachen Hand herum wie ein Gebärdendolmetscher.
"Wodka", fauche ich zurück.
Der Aufguss-Boy ist verzweifelt. Er guckt nach rechts. Er guckt nach links. Völlige Irritation. Das muss ich nutzen.
"Verzeihung", rufe ich ihm zu, "eine Sauna ohne Wodka-Aufguss - also, mal ehrlich ...  Solche Wünsche würde ich nur von einem Alkoholiker auf Entzug erwarten. Unter diesen Umständen bin ich natürlich bereit, zu verzichten. " Ich nicke dem Aufgießer zu. "Dann also einmal Jasmin, bitte."
Die Blonde springt von ihrer Holzbank auf,  zerteilt mit imaginären Handkantenschlägen die Luft und zischelt Worte, die ich nicht verstehen will.
Tür auf. Nordische Kälte. Tür zu. Gewonnen.
"Sie kriegen dann jetzt Wodka, ja?", sagt der Aufgießer und schaut mich erschöpft an. Seine hoch toupierten Haare sind in der Hitze in sich zusammengefallen und sehen aus wie eine zottlige Biberfellmütze, die ihm bis über die Augen ragt.
"Ach, ich würde auch Jasmin probieren. Warum nicht?"
Eine halbe Stunde später stehe ich vor der Sauna und warte auf G.. Er sieht alt aus, müde und irgendwie lustlos.
"Wo ist denn die Blonde mit den Monsterzähnen? Hat´s nicht geklappt?"
Er starrt auf den Bürgersteig und schiebt ein Blatt vor seinem Schuh hin und her. "Das Pflaster am Arm ist mir unter der Dusche abgegangen."
"Ganz ab?"
"Ja."
"Ach, schade."
Schweigend laufen wir die Straße hinab. Es regnet. Ich halte das Bärenhandtuch über meinen Kopf und freue mich auf meine französischen Schwarz-Weiß-Filme. Und auf das Tütchen Erdnüsse.

Muss mal

1/20/2014

 

​DU, ICH GLAUB, ICH MUSS MAL ...

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Claudines Gesicht ist angespannt. Sie hockt auf dem Beifahrersitz meines Wagens, presst die Kiefer aufeinander und legt die Stirn in Falten. Vielleicht denkt sie über Lösungswege aus der globalen Krise nach, oder steht kurz davor,  einen Durchbruch in der Krebsforschung zu verkünden. Zumindest blickt sie so konzentriert durch meine Windschutzscheibe, dass ich Großes erwarte.
"Du ... ?", sagt sie und ihre Stimme klingt rau, wie die eines Seewolfes.
"Ja?"
"Ich ... kann nicht mehr ... Ich muss sofort auf Toilette ... jetzt sofort ..."
Es ist erwartungsgemäß enttäuschend.
"Schon wieder? Wir wollen ins Theater. Das ist jetzt schon superknapp. Du warst doch eben erst, bevor wir losgefahren sind."
"Mann ... das war vor einer halben Stunde. Ich hab doch einen Liter Tee getrunken. Hast du wohl vergessen, was?", sie blickt mich mit verengten Augenschlitzen an, wie sie es immer tut, wenn sie jedes meiner Worte auf ihre Claudine-Waage legt.
"Warum ...", und ich lege einen besonders zartfühlenden Ton in meine Stimme, "habe ich nur mit Frauen zu tun, die offenbar über eine erbsengroße Blase  verfügen?"
"Weiß nich, weiß nich ..."  Sie wedelt mit den Armen vor meiner Nase herum.  "Da ist eine Tankstelle, halt da an ... schnell ... schnell ..."
Der Wagen rollt noch. Sie reißt die Beifahrertür so schnell auf, als wäre sie ein SEK-Beamter im Einsatz, rast mit ihrer engen Lederhose in einem olympiareifen Spurt über die Wiese und verschwindet in der Tankstelle.
Es ist erstaunlich, dass es Menschen gibt, die den minütlichen Gang zur Toilette ritualisiert haben - ganz so, als würden sie Luft holen.
Ich erinnere mich an einen Urlaub in Kuba. Die Infrastrukturen dort waren erbämlich, aber in der Weite der letzten Ödnis ließ sich noch ein kleiner Bretterverschlag finden, der einer Toilette nachempfunden war und auf dessen  Holz (mit roter Farbe bemalt)  dem wackeren Touristen für seine Erleichterung genau ein Dollar abverlangt wurde. Immer und überall: Ein Dollar. Ein Kfz-Mechaniker aus Aachen beklagte sich damals bei mir über seine Freundin. Tatsächlich schaffte sie es  problemlos,  in einem mehrwöchigen Urlaub mehrere hundert Dollar zu verurinieren. Futsch. Einfach so.  Die Reisekasse aufs Übelste geplündert. Davon erzähle ich Claudine natürlich nichts. Es würde sie nur kränken.
Zwanzig Minuten später erreichen wir das Theater, gehen über rote Läufer und erreichen die Garderobe. Claudine reicht mir ihren Mantel.
"Du ... ich verschwinde noch mal kurz, ja?"
Was soll ich ihr entgegnen?  Nein, du musst endlich lernen deine Blase zu beherrschen. Und wenn sie nicht hören will, dann unterjoche sie gefälligst, zwinge sie in die Knie, und dann mach sie fertig. Du bist der Boss. Selbst wenn ich es gewagt hätte, es wäre zu spät gewesen. Hinter Claudine ist längst die antikweiße Toilettentür zugefallen.
Als sie nach fünf Minuten nicht zurückkehrt, erfasst mich eine leiche Unruhe. Nach weiteren fünf Minuten kommt das Gefühl kultivierten Zornes hinzu. Eine Glocke schrillt einmal, das Zeichen für das gleich beginnende Stück und die Aufforderung, langsam den Platz einzunehmen.
Dann endlich kommt Claudine auf mich zu, seltsam verkrampft und knallrot im Gesicht. "Weia ... Mist ... weißt du, was passiert ist?"
"Woher soll ich das wissen? Bei dir ist theoretisch alles möglich."
Sie zeigt auf ihre Lederhose. "Ich kriege den Reißverschluss nicht auf. Er hat sich total verkantet.  Was jetzt? Was soll ich jetzt machen ... Mann, mann ... kannst du nicht mal ...? Echt, das ist ein Notfall ..."
"Was? Soll ich hier mitten im Gang deine Hose aufreißen?"
"Nein ... dann ... also ... komm,  wir gehen schnell mal auf die Toilette. Echt ... ich steh das Stück so nicht durch ...  im Ernst jetzt ... also ... bitte, bitte ..."  Ihre Züge erinnern an ein fünfjähriges Kind, dem das Hopseseil zerrissen ist und das darum keinen Sinn mehr in seinem Leben erkennen mag.
Wir gehen auf die Damen-Toilette.  Meine inneren Proteste möchte ich nicht beschreiben, aber sie sind gewaltig. Vor dem Spiegel stehen zwei kalkweißgeschminkte Omis , die sich blutroten Lippenstift  auf ihre zerknitterten Münder pinseln - zwei Vampirinnen, die über meine Anwesenheit überrascht sind. Blitzschnell huschen sie mit ihren Handtaschen an mir vorbei - nichts wie raus hier -  nicht einmal ein paar Sekunden haben sie sich für ihre Empörung gegönnt. Macht nichts, kann man ja am nächsten Tag bei Kaffee und Kuchen ausführlich durchschimpfen, diese Sache mit dem Mann auf der Damentoilette.
Dann geht es los.
Der Kampf mit dem Reißverschluss gleicht dem Versuch, dem  spartanischen Heer mit einem Zahnstocher entgegenzutreten und auf einen positiven Ausgang zu hoffen.
Zuppeln. Reißen. Zerren.
Das verdammte Ding bewegt sich keinen Zentimeter. Claudine sitzt ermattet auf dem Toilettendeckel. "Was jetzt? Was soll jetzt nur werden?"
"Vielleicht hast du dir den Druck nur eingebildet. Musst du ... wirklich? Also, ich meine, ist es wirklich so ernst?"
"Total. Der Stress jetzt hat mir den Rest gegeben. Ich bin absolut down. Ich werde verrückt, wenn ich die Hose nicht aufkriege ... ganz echt ... tu doch was, bitte."
Es ist einer dieser raren Momente, in denen sich Claudine geschlagen gibt und auf den großartigen Geist ihres besten Freundes hofft. Bitte sehr, ich liefere prompt und ohne Verzug:
"Wir müssen den Reißverschluss rausschneiden." Nur für einen kurzen Moment fühle ich mich wie ein Feldarzt, der einen verwundeten Soldaten die Amputation seines Lieblingsbeines vorschlägt.
"Was? Du willst meine Hose zerstören?"
"Ich sehe keine andere Möglichkeit", und  bei meiner schwerwiegenden Diagnose klinge ich besonders seriös und entschieden.
Sie presst die Schneidezähne auf ihre zitternde Unterlippe. "Na gut. Dann tu es."
Draußen laufen die Menschen fröhlich plaudernd in den Theatersaal. Hier und da wird ein Sektglas geschwenkt - und niemand ahnt etwas von meiner Mission. Am Buffett steht eine vielleicht fünfzigjährige Dame mit tiefschwarz gefärbtem Haar. Sie trägt ein Kellnerinnen-Outfit. Als ich sie um ein Messer bitte, sagt sie nur:
"Wat wolln se`n damit?"
"Ich wollte nur ein Lachsbrot in der Mitte durchschneiden." Meine ärztliche Schweigepflicht verbietet es mir, die Wahrheit zu sagen.
"Ach wat, die Lachsdinger sind doch schon so kleene. Wat wolln se denn da noch teilen?" Sie reicht mir ein rundes Messer herüber.
"Haben sie was spitzeres?"
Sie greift unter ihre Theke und drückt mir einen skalpellähnlichen Gegenstand in die Hand. "Ham se recht. Spitzer is besser. Janz klar. Die nehmen hier immer ollet Brot, is hart wie Zwieback. Da müssen se kräftig rinschneiden. Ick sags Ihnen. Aber pssschh ... muss ja keener hören, wa?"
Nein, das sollte keiner hören. Das bin ich meiner Assistenten schuldig.
Die anschließende Operation führe ich punktgenau durch.  Beherzt trenne ich die Nähte auf einer Seite des Reißverschlusses und ignoriere Claudines glänzende Stirn, über die knödelgroße Schweißperlen kullern. Keine Sorge. Meine Hände sind präzise Instrumente. Ein Scheitern kommt nicht in Frage. Als ich den OP-Saal verlasse, bin ich durchaus zufrieden. Und auch meine Patientin hat sich recht schnell mit ihrer veränderten Lebenssituation zurechtgefunden: Hose kaputt - aber Leben gerettet.
"Mann, mann, das war wirklich in der letzten Sekunde." Claudine zerrt ihren Wollpullover über die Hüften und verdeckt den Reißverschluss. "Sieht auch keiner. Perfekt."
Im Foyer ist es seltsam still. Die Besucher sind alle im Theater. Aus dem Innenraum dringen laute Stimmen, die direkt von der Bühne zu kommen scheinen. Als ich Eingang B ansteuere, wedelt die dürre Platzanweiserin mit den Händen.
"Das Stück läuft schon seit zehn Minuten. Tut mir leid. Sie können erst wieder in der Pause rein", und dabei  flattert ihr dünnes blondes Haar so sehr, als hätte sie sich aus großer Höhe in die Tiefe gestürzt.
"Wir kommen wirklich nicht rein?"
"Wirklich."
"Echt?"
"Echt."
Toll. Fantastisch. Für mich bleibt das Theater wegen des praktizierten Urin-Terrors meiner besten Freundin verschlossen. Ich denke über das Für und Wider eines halben Theaterstücks nach, da ruft Claudine:
"Ach, ist doch nicht so schlimm.  Komm, dann gehen wir eben was trinken. Ich hab totalen Durst." 
Trinken. Toilette. Trinken. Toilette. In diesem Moment durchschaue ich den  teuflischen Kreislauf in Claudines Lebens. Er ist wie ein Strudel, der uns alle in die Tiefe reißt und bei dem selbst alle Rettungsringe dieser Erde versagen würden.
Erleichtert, fast fröhlich, als würde sie im Sommerwind über eine prachtvolle Wiese laufen, stolziert sie zum Ausgang. "Kommst du?," ruft sie.
Sie hat es eilig. Natürlich.
Irgendwann wird ja bald wieder die Sonne aufgehen.
So wenig Zeit - und so viele Berliner Toiletten, die es in dieser Nacht noch zu erkunden gilt.

AUSRASTER

11/18/2013

 

DER SCHWABE RASTET AUS

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Das war ein gutes Frühstück. Ein Schinken-Käse Croissant. Ein sehr heißer Kakao und ein Muffin. Ich stehe in meinem Lieblingscafé an der Kasse. Die Bedienung, die immer ein bisschen wie die junge Sophie Marceau aussieht, hetzt zwischen Kunden und Tresen in Lichtgeschwindigkeit hin und her.
Dann geht die Tür auf und ein eisiger Windhauch streift meinen Nacken. Neben mir taucht ein fünfzigjähriger Typ auf. Sein brauner Trenchcoat raschelt. Über seinen Kopf hat er eine Glencheckmütze gezogen. Die Kanten der Kappe klemmen seine Ohren ab. Dafür ragt seine riesige Nase frei schwebend über den Tresen. Aus den Nasenlöchern quellen dunkle Haarbüschel wie bei einem Rasierpinsel mit echtem Biberhaar.
"Sie haben mir zu wenig Wechselgeld rausgegeben. Gerade eben", zischelt es aus seinen schmalen Lippen.
Sophie, die ja gar nicht Sophie heißt, zieht beide Augenbrauen hoch.
"Moment, gleich ... Ich muss nur den anderen Kunden abkassieren."
Sie lächelt mir zu. Der Mützenmann knirscht mit den Zähnen. "Nein, ich habe ja vorher bezahlt, und Sie haben mir zu wenig zurückgegeben. Deshalb bin ich vor ihm dran."
Der Kerl kennt mich nicht. An diesem Morgen, eigentlich an jedem Morgen,  bin ich besonders aggressiv. Da könnte ich im Vorbeigehen Rauhhaardackeln die Köpfe abbeißen und Kinderwagen umkippen  - einfach nur so, aus frühmorgendlicher Übellaunigkeit.
"Ich stehe vor Ihnen an der Kasse, und sie stehen hinter mir. Verstehen Sie? Ich vorne, Sie hinten."
Der Mann starrt mich aus riesigen Augen an. Sicher, vielleicht hätte ich jetzt eine Horde knallbunter Monster aus der Sesamstraße gebraucht, die ihm singend und tanzend den Unterschied zwischen "Vorne" und "Hinten" erklären - es muss jetzt aber auch mal so gehen.
Er reißt sich die Mütze vom Kopf und schlägt sie gegen seinen Oberschenkel, als würde er einen Gaul beim Ritt durch die Prärie anfeuern. Über seiner Stirn klebt ein Rest Haare - ein Büschelchen dunkler Strähnen, die sich verloren und vereinsamt aneinander klammern. Sonst nichts. Kahlschlag. Eine glänzende Glatze wie eine fleischfarbene Christbaumkugel - und weiter unten zwei mausgraue böse Augen.
"Blödr Seckl, blödr !", brüllt er mich an.
Aha. Enttarnt. Ein Schwabe, mitten in meinem Kiez. Natürlich. Ich nicke Sophie hinter dem Tresen zu, und sie nickt zurück. Keine Ahnung, was ein "Seckl" ist. Klingt aber irgendwie ganz niedlich. Da wollte er mit seinem Hochdeutsch wohl schön in der anonymen Masse abtauchen , aber nur ein kleiner Schuss Zorn und die kunstvoll geschmiedete Maske fällt polternd zu Boden.
"Das ist Betrug, was hier läuft", ruft er durch das Café. "Das lasse ich mir nicht gefallen."
Sophie beugt sich ein wenig vor. "Können Sie das Brüllen mal lassen?"
Könnte er vielleicht. Tut er aber nicht.
"Ich habe Ihnen vorhin zehn Euro gegeben, und Sie haben mir nur auf fünf  rausgegeben. Das ist Betrug. Das ist wohl Ihre Masche. Das kann ruhig jeder hören."
Die Gabeln auf den Kuchentellern klappern nicht mehr. Gespräche verstummen. Sogar der ungewaschene Nerd in der Ecke linst über seinen Laptop. Zwischen Käsekuchen und Marzipanhörnchen ist Stille eingekehrt.
Sophie zuckt mit den Schultern. "Ich bin eigentlich gut im Rechnen. Können Sie es irgendwie beweisen?"
Der Schwabe lacht laut. "Meinen Sie, ich mach hier Fotos? Ich hatte nur einen Zehn Euro Schein in der Tasche und jetzt ist er weg. Da ist ja wohl klar, was hier passiert ist."
Spannend. Zwei Personen und eine lügt. Da steht der überkorrekte (aber höchst unsympathische) Schwabe und auf der anderen Seite die freundliche (aber womöglich fiese Trickdiebin) Sophie. In einem Krimi würde aus dramaturgischen Gründen sicher Sophie überführt werden. Macht sich für die Story einfach besser. Sie ist eine Studentin und Berlin nicht billig. Ein ganz klares Motiv. Sie zeigt auf ein Glas mit Kleingeld, das auf dem Tresen steht.
"Ich könnte Ihnen vielleicht die Differenz aus unserem Trinkgeld geben. Aber dann bezahlen wir hier alle für etwas, nur weil Sie es behaupten."
Hmm. War das ein Teilgeständnis? Sie senkt den Kopf ein wenig, wie man es bei einem ertappten Kind vermuten würde. Und wenn das alles nur ein Trick des Schwaben ist? Hinter seiner Seriosität und der womöglich gespielten Empörung könnte ein besonders raffinierter Plan stecken. Mal eben die Bedienung in einem Café diskreditieren und zackizacki eincashen. So ein Häusle im Ländle ist sicher nicht billig - da zählt jeder Cent.
Der Schwabe reckt sein Kinn empor und klopft mit einer Hand auf seine Brust. "Wie soll ich es Ihnen denn beweisen?", schnauzt er über die Theke. "Soll ich vor Ihnen meine Tasche leeren? Ja, wollen Sie das? Das können Sie haben."
Überhastet, fast hysterisch,  reißt er das Innenfutter seiner Taschen heraus, stülpt sie nach außen und sieht dabei wie ein Clochard an der Seine aus, der vor den Touristen ein kleines Schauspiel aufführt, nur um ein paar Euro zu erhaschen. Vier Taschen später ist er fertig - und dann, in einem Moment, in dem die Zeit gefroren scheint, gleitet ein Zehn Euro Schein durch die Luft,  frei fliegend zieht er seine Bahnen und landet ganz leise auf dem Holzboden des Cafés.
Ich sehe es. Sophie sieht es. Der Nerd glotzt voller Unglauben hinter dem Laptop hervor, streckt seinen Zeigefinger aus und piekst so hektisch mit ihm in der Luft herum, als sei gerade Godzilla an seinem Tisch vorbei gestapft.  Hastig bückt sich der Schwabe nach dem Geld.  Schnell, schnell, bevor noch jemand anders zugreift.
"Na ... also ... da muss wohl ..." Er fingert an einer Tasche herum. " Da muss wohl... hier ... mein Innenfutter ... ein bisschen aufgerissen sein. Und der Schein war wohl... also ... ja ... na gut ..."
Keine Entschuldigung, kein bemühtes Lächeln. Nur seine dunkle Haarsträhne kippt erschlafft in sich zusammen - sicher der höchstmögliche Ausdruck seiner Beschämung. Er stülpt sich die Mütze über den Kopf, dreht sich um und huscht mit flatterndem Trenchcoat aus dem Laden. Nicht einmal die Taschen hat er nach innen gekrempelt. Bloß keine Zeit verlieren. Nichts wie weg hier. Ab durch den rettenden Ausgang.
Die Prenzlauer Berg- Muttis an den Tischen müssen diesen Fall erst mal analysieren. Hier und da wird getuschelt. Ein leises Kichern ist zu hören. Die Gabeln klappern wieder. Der Nerd hämmert auf den Tasten seines Laptops herum.
Ich schüttel den Kopf. "Mann, diese Schwaben. Nervend."
"Du ...?" Sophie beugt sich ein Stück vor.
"Ja?" Ich lausche ganz angestrengt.
"Weißt du ...?"
"Was?"
"Na ... Ich komme aus Stuttgart."
Ich habe keine Mütze, die ich mir über meinen feuerroten Kopf stülpen könnte, auch keine Plastiktüte mit Sehschlitzen. Dafür flattert aber wenigstens auch mein Mantel , als ich das Café verlasse und dem erprobten Fluchtweg des Schwaben folge.
Prenzlauer Berg im Herbst und auch noch am frühen Morgen - nichts ist so, wie es scheint. Wirklich gar nichts.
Nur meine morgendliche Übellaunigkeit ist stabil. Auf die ist Verlass.
Immer.

HALLOWEEN

10/28/2013

 

HAPPY HIPPIE HALLOWEEN

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"Sieht gut aus, was. Ist mal was ganz anderes, oder? Irre, was? "
Bernd steht vor mir. Mit weißgeschminktem Gesicht und rot umrandeten Augen. Über seinem Kopf hat er eine metallische Ritterhaube gezogen und darunter klappert eine Eisenrüstung.
Es sind  Vorbereitungen für die große Halloween Party in irgend so einer Neureichen-Villa, auf die Petra, Claudine, Bernd und ich eingeladen sind. Und wie immer nimmt es Bernd ernst. Sehr, sehr ernst. Selbst wenn er nur eine Mülltüte herunterbringt, erstellt er dafür einen ausführlichen Plan, der alle Eventualitäten berücksichtigt. Man weiß ja nie ...
In dem Kostüm-Laden in Prenzlauer Berg ist einiges los. Eine rundliche Blonde läuft mit einem grünen Elfenkostüm zwischen den Ständern lang und zupft immer wieder an ihren spitzen Ohren, die sie sich angepappt hat.  Ihre Pausbäckchen sind vor Aufregung ganz rot. Atemlos betrachtet sie sich im Spiegel. Sie ist bestimmt über fünfzig und sehr zufrieden. Ich zähle etwa sieben Stellen, an denen das Kostüm dramatisch spannt und sich wie vor einer Explosion verzweifelt aufbäumt. Ihr Freund trägt ein Metzgerkostüm mit Blutspritzern und dem Aufdruck The Family Butcher. Er nickt ihr immer wieder aufmunternd zu. Ein tolles Paar.
Und vor mir steht Bernd in seinem absurden Aufzug. Ich piekse ihm mit dem Zeigefinger in seinen Brustpanzer.
"Warum trägst du eine Ritterrüstung und schminkst dir das Gesicht weiß? Was soll das sein?"
"Na, ein Zombie-Ritter."
"Kapier ich nicht."
"Na,  ein Zombie in einer Ritterrüstung."
"Ein Zombie zieht sich keine Rüstung an, nachdem er gebissen wurde. Und außerdem ..."  Ich überlege laut und betrachte die tiefen Sorgenfalten auf Bernds Stirn.  "... vorher konnte er ja nicht gebissen werden, weil er die Rüstung anhatte, oder?"
Bernd senkt betreten den Kopf. Das Visier seines Helms klappert laut.  Er zuckt mit den Schultern. "Ist logisch. Mist."
Er setzt sich scheppernd und mit gebeugtem Oberkörper auf einen Stuhl und überlegt. Wunderbar. Ich habe weder Lust, mir ein Kostüm anzuziehen, und mein Gesicht will ich auch nicht bemalen. Ich bin ein Halloween-Party-Pooper. Ich verderbe den anderen die Stimmung - aber so richtig.
Bernds Freundin Petra tanzt aus der Umkleidekabine. Ja. Genau. Sie tanzt mit Trippelschritten durch den Raum und  hat ein Freddy Krüger Kostüm mit  blutigen Scherenhänden an. Schauspielerisch eine glatte Sechs. Sie  strahlt mich an.
"Schrööööckkklllichhh, was?"
Nein, ist es nicht. Einfach nur doof und peinlich. Und viel schlimmer als das: Völlig unlogisch. Sie hat natürlich nicht mit dem Halloween-Enttarner gerechnet, der in einer dunklen Ecke auf sie gewartet hat. Ich hole tief Luft.
"Erstens: Freddy Krüger ist ein Mann.  Verstehst du ?  Er hat keine Brüste.  Nichts da.  Und zweitens ... "  Ich lasse mir betont viel Zeit und genieße den tieftraurigen Zug, der um ihre Augen liegt.  "Und zweitens ist er ein Schlitzer, der seine Opfer nachts in ihren Träumen überfällt. Er tanzt nicht leichtfüßig hin und her. Freddy ist kein alberner Rumhopser."
Bernd klappert aus seiner Ecke. "Da hat er recht. Das passt nicht.  Passt gar nicht", und dabei freut er sich so richtig, dass er nicht der einzige Loser im Raum ist.
"Mann, du kannst einem alles verderben. Ich gehe trotzdem als Miss Freddy Krüger, so",  Petra stapft mit dem Fuß wie ein fünfjähriges Kleinkind auf und dabei klirren ihre Scherenhände im Takt.
"Mach doch.  Mach doch. Aber es passt nicht, und unsexy ist es auch noch. Ich habe es dir vorher gesagt ...  Du warst gewarnt."
Klasse. Schon zwei Halloweenies erledigt. Fehlt nur noch Caudine. Und dann sehe ich sie. Es macht mich sprachlos. Es ist absurd. Komplett daneben. Eine Frechheit.
Sie ist barfuß, hat Blumen im Haar und trägt ein knalliges Hippiekostüm mit Stirnband. Sie strahlt über das ganze Gesicht. Woodstock im Horror-Shop. Das passt mir gar nicht. Sie streckt vor dem Spiegel die Arme aus, als würde sie im Scheinwerferlicht vor einem Millionenpublikum auftreten.
"Ist das nicht toll? Ganz groß ist das. Das wollt ich immer schon mal anziehen. Mann ... so schön ..."
"Wir gehen auf eine Halloweenparty, nicht auf einen Kindergeburtstag. Was ist jetzt an deinem Outfit gruselig, wenn ich mal fragen darf?"
Sie betrachtet sich im Spiegel. "Weiß nicht. Ich find es einfach schön."
"Ganz klar, das Thema verfehlt. Das ist so, als ob ein Schüler eine Klassenarbeit über die Folgen des zweiten Weltkriegs schreiben soll und dann eine Arbeit über gesellschaftliche Strukturen in Entenhausen abliefert. Verstehst du? Thema verfehlt. "
Sie richtet die Blumen in ihrem Haar und lächelt sich sebst zu. "Was sollte ich denn sonst nehmen? Es muss ja auch ein bisschen zu meinem Charakter passen, oder?"
"Ich empfehle dir das Bluthexenkostüm auf Ständer drei, oder vielleicht die Verkleidung als Mörderpuppe.  Damit liegst du eher richtig."
Sie wirft mir eine Plastikblume ins Gesicht und dreht sich eingeschnappt weg. Na also. Nummer drei auch erledigt. Ich betrachte die Früchte meines zähen Kampfes. Herrlich. Schachmatt, Herrschaften. Das Spiel ist aus. Es geht mir richtig gut, aber Miss Freddy Krüger lässt einfach nicht locker.
"Setz dich mal da drüben hin" , zischelt sie und klirrt mit den Scherenhänden. Sie zeigt in eine Ecke, in der ein unrasierter Kerl in einem Werwolfkostüm sitzt. "Jetzt suchen wir dir mal was raus."
Als ich Platz nehme, murmelt mir der Mann im Wolfkostüm zu: "Voll Scheiße, wa?  Jedet Jahr der gleiche Mist. Ick hab so richtich die Schnauze voll davon."
"Dann lass es doch einfach."
Er blickt mich mit großen Augen an. "Wie denn? Dit da drüben is meene Freundin." Er zeigt auf eine kleine Frau, die in einem Teufelin-Kostüm mit schwarzen Schwingen durch die Ständer huscht. "Hab echt keenen Bock uff  Stress mit der.  Ick bin eijentlich Busfahrer."
Na und, hätte ich fast ausgerufen. Als ob ein Berliner Busfahrer die höchste moralische Instanz in Deutschland wäre, den man auf gar keinen Fall in ein Werwolfkostüm stecken darf.  Er streicht mit der Hand traurig über sein Fell, und ich schlucke meinen Kommentar herunter. Wir sind verzweifelte Brüder. Da lernt man, sich gegenseitig zu respektieren.
Claudine, Petra und Bernd sind zurück. Jeder hat ein Kostüm über den Arm. Claudine streckt mir einen schmutzig-braunen Lappen entgegen.
"Ist eine Moorleichen-Verkleidung. Ich wollt schon erst das Zwangsjacken-Kostüm nehmen ... aber das ist auch in Ordnung."
"Oder willst du lieber den Zombie-Matrosen?" Petra wedelt mit einem gestreiften Stofffetzen hin und her. Es ist zum Heulen. Dann tritt Bernd einen Schritt vor.
"Ich dachte, das würde dir vielleicht gefallen ..."
Es ist ein schwarzes Gummikostüm. Dann sehe ich die goldene Gürtelschnalle und die Maske. Mein Herz macht einen Riesensprung.
"Ist das ... ist das etwa ... ?"
Ja. Es ist ein Diabolik-Kostüm. Der König der Verbrecher. Der coolste Kriminelle ever. Diabolik -  der Traum meiner Kindheit. Wow. Ich bin gerührt.  Fast hätte ich Bernd umarmt. Ich brauche gefühlte dreißig Minuten um das Kostüm anzuziehen. Es sitzt so eng, dass man seinen Körper vorher mit Butter einreiben müsste. Gehen kann ich darin eigentlich nicht. Es knirscht bei jedem Schritt, und das Gummi über dem Mund ist auch unerträglich.  Ich bekomme praktisch keine Luft. Aber egal.  Damen und Herren: Hier kommt Diabolik.
Als ich vor die Umkleidekabine trete, nickt mir Bernd zu und streckt beide Daumen nach oben.
Claudine zuckt nur mit den Schultern.  "Sieht aus wie ein Tauchanzug."
"Oder wie ein Fahrradschlauch ...", platzt es aus Petra heraus. "Aber wenigstens kann er mit dem Gummi über dem Mund nicht richtig sprechen. Da haben wir alle was von."
Mir egal. Ich finde es super. Beim Herausgehen begegnet mir noch einmal der Busfahrer-Werwolf. Er hält zwei Plastiktüten in der Hand und sieht todunglücklich aus.
"Jetz hat mir meene Freundin ooch noch  dit Kostüm fürt nächste Jahr jekooft. Da bin ick `n  Horror-Harlekin.  Ick flipp noch aus.  Richtich Scheiße, wa?"
Das kann man wohl sagen.
Happy Halloween.

WOHNUNG

10/14/2013

 

WIE MAN EINE HÜBSCHE WOHNUNG BEKOMMT ...

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Die Schlange vor mir ist mindestens achtzig Meter lang. Alle stehen an:  Das Paar aus Bamberg (sie mit echtem Biberpelz, er mit grünem Filzhut), die zwei Studenten, die sich hastig die Nasenringe aus den Löchern ziehen und die Dame aus Frankfurt, deren Stirn so unnatürlich glatt ist, dass sie wahrscheinlich irgendwo auf ihrem Rücken einen Botox-Tank verbirgt - zum minütlichen Nachsprühen.
So sieht eine ganz normale Wohnungsbesichtigung an einem herbstlichen Tag in Prenzlauer Berg aus. Ein bisschen wie ein Faschingsumzug - nur in Ernst.
Und neben mir steht Claudine in ihren High Heels, aufgetusst, als wolle sie im Blitzlichtgewitter über einen roten Läufer stelzen und dabei Handküsse ins Publikum werfen. Wir erreichen das Treppenhaus. Ich bin genervt.
"Ich habe auf so was keine Lust. Warum muss ich mitkommen, wenn du eine Wohnung suchst."
"Damit wir als Paar ohne Kinder auftreten können. Double income - no kids. Da weinen die Makler vor Glück, kannst du mir glauben",  flüstert sie mir zu und guckt dabei über ihre Schulter, "die Studenten hier haben wir damit schon mal ausgeschaltet. Das wird ein harter Fight. Und sei bloß charmant, wenn der Makler kommt, hörst du?"
Missbraucht, gedemütigt und wie ein Tanzbär am Nasenring in die Arena der Wohnungssuchenden gezerrt. Es ist ein Albtraum. Claudine ist meine älteste Freundin, aber als sie auch noch mein Sakko gerade zieht, ihren Finger bespeichelt und mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht zerrt und irgendwo anpappt, spüre ich einen Hauch archaischer Wildheit  in mir aufsteigen. Nur ein Hauch - aber er ist da.
Ich betrachte die Frankfurterin in ihrem blauen Kostüm. Das wird nicht leicht. "Darf ich mal fragen, wie du das Botox-Biest besiegen willst? Ihre Schuhe sind bestimmt noch ein paar Zentimeter höher als deine.  B.B. ist auch kein Dummerchen."
Claudine schaut ihre Kontrahentin mit dem Ausdruck höchster Missbilligung an. "Ich bin aber bestimmt fünf Jahre jünger. Mindestens ..." , und dabei gibt sie sich nicht mal die Mühe, leise zu sprechen. Sicher ein psychologischer Trick, um den Gegner zu zermürben.
B.B. dreht sich um und blickt Claudine ins Gesicht. Die beiden mustern sich mit stahlharten Augen. Die Falten zwischen Claudines Augenbrauen vertiefen sich. Sie sieht gefährlich aus. Das Frankfurter Früchtchen möchte vielleicht mitrunzeln, aber es geht ja nicht. Dafür zieht sie einen Lippenstift aus der Tasche  und bepinselt sich mit einem blutigen Rot die Lippen. Claudine zieht nach, aber ihr Lippenstift ist einen Touch heller. Ich würde sagen, unentschieden.
Wir erreichen die Wohnung. In kleinen Gruppen beginnt der Rundgang. Der Makler stellt sich vor. Er ist mir unsympathisch. Es ist so ein Typ, der mal eben zum Spielen eine halbe Stunde lang mit seinen Haifischen durch das Becken planscht. Sein blondiertes, flattriges  Haar hat er sich zum Mittelscheitel frisiert, ein bisschen wie Howard Carpendale - aber der ist entschieden cooler. Seine burgunderrote Krawatte quält sich über das blaue Hemd, und die Schuhe haben den Touch von Ballerinas. Man möchte ihn wie eine mexikanische Boxbirne bearbeiten. Vorbeugend sozusagen. Aber ich darf ja nicht.
B.B. lächelt ihn mit ihren prachtvollen Zähnen an, schüttelt seine Hand, und dabei untermalen ihre zahlreichen klappernden 24 Karat-Goldreifen die außerordentliche Symphonie des Heuchelns. Claudine greift in ihre Handtasche und holt einen Schlüsselbund hervor. Ein Porsche-Enblem baumelt zwischen den silbrig-grauen Schlüsseln.
"Was soll das denn? Du fährst einen zwölf Jahre alten Golf. Wo hast du den Anhänger  überhaupt her?"
"E-Bay. Drei Euro. Stör mich jetzt nicht." Sie stakst auf den Makler zu. Fast hätte ich applaudiert: Ihr Auftritt  gleicht in seiner Eleganz  einer Marlene Dietrich garniert mit der rotzfrechen Attitüde einer  Miley Cyrus.  Ich hätte nicht gedacht, dass ein solcher Mix möglich ist - aber da ist er. Direkt vor mir.
Während die anderen Interessenten die Wohnung begutachten, bearbeiten die beiden, B.B. auf der rechten, Claudine auf der linken Seite, den Makler. Es wird gescherzt, gelacht - mit allen Mitteln um die Bude gebuhlt.
Ich muss mich abwenden. Es geht nicht anders.
Bei meinem Rundgang durch die Drei-Zimmerwohnung fällt mir ein riesiger gelber Wasserfleck an der Decke auf. Er erinnert mich in seiner  Form an die Umrisse Italiens.  Die undichten Fenster dürften den mediterranen Touch unterstreichen, und nahezu nahtlos reiht sich das bröcklige Mauerwerk in das naturbelassene Toskana-Feeling ein. Ein Traum für  nur 1400,- Euro warm.
Da drüben, in der Maklerecke,  bahnt sich wohl auch eine Entscheidung an. Claudines enttäuschte Züge entgehen mir nicht, während B.B. strahlt. Es ist ein sattes, selbstzufriedenes Lächeln, wie es nur der Sieger nach einem Boxkampf zustande bringen würde. Claudine tritt neben mir in den Türrahmen.
"Stell dir mal vor, die will sechs Monatskautionen bezahlen und auch noch die gesamte Instandsetzung . Und noch was drauf auf die Maklerprovision. Mist."
"Und dann noch die höheren High Heels", fast hätte ich laut gelacht.
"Der Kerl hat mir auch noch seine Karte mit  so einem dreckigen Vielleicht-sieht-man-sich mal-Zwinkern gegeben."
Die Rostbraune Karte mit den verschnörkelten Buchstaben liegt in ihrer ausgestreckten Hand. Sie betrachtet sie und für einen Moment habe ich das Gefühl, dass jemand in ihrem Kopf eine Lampe anschaltet.
"Moment mal", flüstert sie und kramt aus ihrer Tasche das Handy hervor und prüft etwas - und zehn Sekunden später "Aha."
Sie marschiert auf den Makler zu, diesmal aber eher im militärischen Stechschritt. Bye bye, Marlene, Ciao Miley.  Ich höre aus der Entfernung nur ein, "darf ich Sie noch mal kurz persönlich sprechen?", dann verschwindet sie im Nebenraum mit dem Herrn.
Nach fünf Minuten geht die Tür wieder auf.
Claudine ist euphorisch. Im Hintergrund steht der Makler mit knallrotem Kopf. Die Krawatte baumelt unlustig über seinem Bauch. Mit herrisch ausgestrecktem Kinn läuft Claudine am Botox-Biest vorbei und wirft ihr von der Seite ihren jahrelang erprobten Blick fürs Fußvolk zu.
"So, das hätten wir geklärt."
Als wir im Treppenhaus stehen,  platze ich fast vor Neugierde. "Was denn? Na, sag schon. Ich will es wissen. Raus damit. Los, los ...."
"Der Typ ist kein echter Makler. Der tut nur so. Dem gehört die Wohnung. Der wollte nur die Maklerprovision einstreichen. Das ist in Deutschland strafbar."
Sie steht drei Stufen über mir und blickt auf mich wie ein Winzwürmchen herab. "Habe ich vor zwei Tagen recherchiert. Ich versuch doch immer direkt an den Eigentümer ranzukommen. Warum soll ich ein paar Tausend Euro Provision dafür bezahlen, dass mir jemand nur die Tür aufschließt?  Und der Name und die Telefonnummer auf der Karte sind identisch . Nein, nein ... so nicht... Soooo nicht ..."
"Und nun?"
"Der ruft mich nächste Woche an."
"Du willst die Wohnung? Und diesen blassen Molch als Vermieter?"
"Neihhheeeinnn. Will ich nicht." Sie tritt ganz nah an mich heran. Ich spüre ihren Atem in meinem Gesicht. "Aber diese Tussi aus Frankfurt darf die Wohnung auch nicht bekommen. Auf gar keinen Fall. Verstehst du? Darum geht es doch."
Das habe ich verstanden. Während sich Männer bei Meinungsverschiedenheiten in ehrliche Kneipenprügeleien begeben und sich die Fäuste ins Gesicht schlagen, wird hier ein ausgebufftes Netz der Intrige gesponnen, um den weiblichen Gegner hinterrücks zu erlegen. Erstaunlich.
Als wir vor das Haus treten, atmet Claudine ganz tief ein.
"Ist ein schöner Herbsttag, was?"
Sie stakst durch die Straßen und spießt mit ihren Absätzen die harmlosen gold-gelben Blätter auf dem Kopfsteinpflaster auf - und der Oktoberwind umsäuselt voller Ehrfurcht ihr wehendes Haar.

TIEFKÜHLTRUHE

10/7/2013

 

VERRAT AN DER TIEFKÜHLTRUHE

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ch gebe es zu. Vieles lässt mich kalt:  Beinlose Bettler, wimmernde Waisenkinder, humpelnde Hunde -  damit muss mir keiner kommen. Aber bei alten Leuten in Not zieht sich mir der Magen zusammen. Keine Ahnung, warum. Und ausgerechnet heute begegnet mir diese Greisin in meinem  Supermarkt.
Sie ist klein. So klein, dass sie sich fast an der Tiefkühltruhe vor ihr wie in einer Turnübung hochziehen muss.  Die Brille rutscht ihr immer wieder über die Nase. Und dabei will sie doch nur an die Fischstäbchen ran, von fiesen Supermarktmitarbeitern fein säuberlich in der letzten Reihe aufgestapelt.  Es war sicher eine Anweisung des Chefs. Fischstäbchen für Berliner Rentner? Brauchen die nicht. Die sollen doch trockenes Brot futtern.  Sind das doch aus`m Krieg gewohnt.
Nein, diese Oma hier hat keine Chance. Ihre Muskeln sind sicher vom vielen Rollatorfahren ganz aufgeweicht. Ich muss eingreifen. Die Fischstäbchen geangelt und der alten Dame überreicht. Ihre knochigen Hände zittern, als sie die Packung schnappt und sie sich wie ein Kleinkind gegen die Brust presst.
"Danke, das ist sehr freundlich. Vielen Dank, das hätte ich nie alleine geschafft."
Erst jetzt fällt mir der violett-rote Stich in ihrem grauen Haar auf, wie sie bösartige Friseure gerne halbblinden Seniorinnen verpassen. Auf ihrem Kopf sieht es aus wie nach einer Malstunde für Erstklässler. Altwerden ist wirklich eine unangenehme Angelegenheit.
Eine Mitarbeiterin des Supermarktes nickt uns zu. Sie rauscht in ihrem roten Kittel vorbei und verschwindet in der Wurstabteilung.
"Sagen Sie mal", frage ich die Seniorin an meiner Seite, "warum haben Sie die denn nicht um Hilfe gebeten?"
Die Alte beugt sich ein Stück vor und kneift die Lippen zusammen. "Die? Ach, die doch nicht. Um Gotteswillen. Die hat zwei Jahre da hinten in der Flaschenannahme gearbeitet. Und wissen Sie, was die gemacht hat?"
Keine Ahnung. Vielleicht hat sie Wasser in die leeren Flaschen gefüllt und mit einem Löffelchen drauf rumgeschlagen. Ich weiß es wirklich nicht. Die Alte beugt sich noch ein Stückchen vor.
"Geklaut hat die, wie ein Rabe. Das Flaschenpfand hat sie sich schön in die eigene Tasche gesteckt. Und dann ist sie immer mit schicken neuen Klamotten hier rumgelaufen, bis es rauskam."
"Warum ist sie nicht geflogen?"
"Na, weil die Bande hier zusammenhält. Die hat schön auf Mitleid gemacht, von wegen ihrer Kinder, und dann haben sie die in die Wurstabteilung versetzt, weil sie da nichts mit Geld zu tun hat."
Ich blicke den Gang hinab. Das Gesicht mit der weißen Haube zwischen all den baumelnden Würsten wirkt eigentlich harmlos. Aber das könnte ihr Trick sein. Womöglich ist sie nun von Kleingeld auf Wurstzipfel umgestiegen, die sie sich kurz vor Schichtende in die Taschen ihrer Jeans klemmt. Die Fingerspitzen leckt sie sich bestimmt ab. Man will ja keine Spuren hinterlassen.
"Und die da hinten ist noch schlimmer." Die Alte zeigt nach hinten zu Kasse Nummer drei. Eine dickliche Vierzigjährige mit knallroten Lippen sitzt da am Laufband. "Die quatscht die Kerle hier immer an. Die angelt die sich hier richtig weg, und dann sitzt sie mit den Typen nach der Arbeit beim Italiener nebenan. Und ich muss Ihnen ja nicht sagen, was dann danach passiert, oder? Das wissen sie doch,  ja?" 
Ich ahne es. Bilder von ekstatischen Verkäuferinnen mit zerrissenen roten Supermarktkitteln flimmern durch mein Hirn. Irgendwie muss ich die da wieder rausbekommen,  aber die Zunge der Alten ist wie eine geladene, scharfe Waffe, aus der immer neue Enthüllungen abgefeuert werden.
"Und einmal, da ist die viel zu weit gegangen. Da musste sie abtreiben lassen. Da hat sie hier die den ganzen Tag heulend gesessen. Aber das war die Strafe. So was macht man ja auch nicht, oder?", und noch einmal mit Nachdruck, "oder?"
Ich schüttel den Kopf fast wie automatisch.  "Warum gehen Sie denn nicht in einen anderen Supermarkt?"
Sie lacht auf, schrill und laut - und gar nicht omahaft. "Na, jetzt wo ich hier meine Pappenheimer kenne? Nee, nee, nee ... In seinem Revier muss man sich immer auskennen. Da muss man gewappnet sein. Ist besser so." Dann wackelt sie den Gang hinab in Richtung Waschpulver.
Tolle Enthüllungen.
Ich habe mir erst mal Hundert Gramm Salami an der Wursttheke bestellt. Nicht, weil ich Appetit darauf habe, sondern weil ich mir die Flaschenpfand-Gaunerin noch mal genauer anschauen wollte. Es hat einen gewissen Kitzel, etwas aus dem Leben eines Menschen zu wissen, wenn der nicht ahnt,  dass sein schrecklichstes Geheimnis längst in Umlauf ist. Natürlich habe ich auch überprüft, ob sie beim Abwiegen den Finger auf die Waage legt. Nur so. Sicher ist Sicher.
Zum Bezahlen geht es natürlich an Kasse Nummer drei - wo ich schon mal so richtig in Stimmung bin. Vielleicht habe ich es mir eingebildet, aber hat mir die dicke Kassiererin mit ihren zugespitzten Lippen nicht eben zugezwinkert? Hat sie bestimmt. Das bilde ich mir doch nicht ein. So ein Biest.
Als ich meine Tüten einpacke, bemerke ich die Alte noch einmal. Sie steht in der Blumenecke hinter einem Holzgerüst, vertieft in ein Gespräch mit dem kahlköpfigen Händler. Sie besäuselt ihn mit ihren Familiengeschichten und irgendwann sagt der: "Ich habe vorhin schon gedacht, dass das ihr Enkelsohn war, mit dem sie sich da unterhalten haben."
"Was? Der? Nee, nee ... Haben Sie gesehen was der für abgewetzte Schuhe anhatte? So was trägt mein Enkelsohn doch nicht. Und das Hemd war auch zu weit aufgeknöpft. Viel zu weit. Da konnt man ja schon das Brusthaar sehen. So läuft man doch nicht rum."
"Vielleicht hat er gedacht, dass er Burt Reynolds ist", lacht der Blumenhändler und legt den Kopf so weit in den Nacken, dass ich vier fleischige Ringe an seinem Hals zählen kann.
Ich blicke auf meine Schuhe hinab. Das ist ein verdammter Vintage-Style, hätte ich am liebsten in die Blumenecke gerufen. Das trägt man heute so.  Und Burt Reynolds, nun ... so übel fand ich ihn gar nicht. Gut, der Schnauzer war schon etwas übertrieben und als er sich dann in späteren Jahren auch noch ein rabenschwarzes Toupet auf den Kopf gepappt hat, war es aus mit dem Zauber.
Die Einkaufstüten liegen wie Kanonenkugeln in meinen Händen, als ich an der verräterischen Alten vorbeiziehe.  Aber ich bin viel zu beleidigt, um sie abzufeuern. Sie winkt mir noch einmal zu und setzt ihr bestes Greisinnen-Lächeln auf, so, als wolle sie mir hinterherrufen:  Freundchen, ein Supermarkt ist ein Kriegsgebiet - und hier überleben nur die Besten. Ab nach Hause mit dir.
Ich gehe - aber ich werde wiedergekommen. Die Schlacht hat eben erst begonnen.
Als ich draußen auf der Straße bin, schließe ich den obersten Knopf meines Hemdes. Man sollte es seinem Gegner nie zu leicht machen.
Grundsätzlich nicht.

LILLI

9/30/2013

 

LILLI KANN NICHT SCHLAFEN

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Die Chips stehen auf dem Tisch. Die Dose Red Bull ist geöffnet. Der Flachbildschirm läuft warm. Gleich beginnt der Super-Duper-Directors Cut von Blade Runner.  Ein echtes Jungs-Ding. Perfekt. Alles ist perfekt. Fast.
"Duuuuhuuu... kannnschhhttt du mal kohhoommen...?"
Lilli steht im Bad. Sie putzt sich seit gefühlten zehn Stunden die Zähne . Lilli ist sieben Jahre alt. Die Tochter von Petra, einer Freundin, die mich bat, auf das Kind und ihren hyperaktiven Jack Russel aufzupassen. Geködert hat sie mich mit ihrem Science-Fiction-Kanal, den sie abonniert hat.  Lillis ganzes Gesicht ist voller Schaum. Ein Blick zur Uhr macht mich nervös. Nur noch zwölf Minuten.
"Was gibt es denn?"
Lilli schäumt weiter vor sich hin.
"Ich putsche jeden Schahn schweeeei Minuten. Guck mal..."
Sie zeigt mir ihre Zähne. Es versetzt mich in Panik. Wenn das so weitergeht, verpasse ich den Anfang vom Film, die wundervollen Momente, in denen Harrison Ford über sein Leben als Blade Runner philosophiert. Ich muss eine Entscheidung treffen. Sie ist drastisch.
In jeder Familie gibt es Gruselgeschichten, mit denen man Kinder erfolgreich terrorisiert hat, um sie zu bestrafen oder ins Bett zu treiben. In meiner war es der "Mann im Rohr". Habe ich meinem Großvater hämisch lachend die Luft aus seinem Fahrrad gelassen, oder meiner  Großmutter die Stimmung bei Fernsehkrimiabenden vermiest (weil ich die Sicherung herausgedreht und sie meist im Brotkasten versteckt habe), betrat er die Fläche: Der Mann im Rohr. Ein düsteres Phantom, das in den Rohren lauert,  um unartige Kinder zu packen und sie durch die schreckliche Welt der Rohre zu schleppen, wo sie nie mehr auftauchten. Der Mann im Rohr war  täglich Gast in unserem Haus -  Ganze Nächte habe ich mit meiner Taschenlampe unter der Bettdecke verbracht, bewaffnet mit einem Taschenmesser. Man weiß ja nie ...
Jetzt ist Lilli dran.
"Also ... Lilli ... du weißt schon, dass du seit einer halben Stunde im Bett sein solltest."
Sie interessiert sich nicht für meine anklagende Rede und schrubbt weiter auf den Zähnen rum.
"Wenn du in fünf Minuten nicht fertig bist, kommt der Mann im Rohr. Er wird dich wegschnappen und in seine Rohre mitnehmen. Wirst schon sehen."
Das Schrubben stoppt. Wie auf Knopfdruck. Lillis Augen sind weit aufgerissen. Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und starrt in den Abfluss des Waschbeckens.
"Aber da...  drin... ist doch keiner."
"Er sitzt im Rohr. Er wartet. Du hast noch vier Minuten. Oder er wird dich holen. Tempo jetzt ..."
Aus dem Zimmer nebenan tönen die wummenden Bässe von Blade Runner. Der herrliche Vangelis Sound. Verdammt.
"Also... eigentlich ... wäre es besser... du gehst jetzt sofort ins Bett."
Lilli glotzt noch immer in den Abfluss. Ein sorgenvoller Zug liegt auf ihrer Stirn.
"Da ist doch ... gar keiner drin. Sag mal ehrlich ... ", ihre Stimme ist ein wogendes Meer aus kindlicher Unsicherheit.
"Also, Lilli, ich würde das Risiko nicht eingehen. Wenn der Mann im Rohr  kommt, ist es zu spät. All die vielen Kinder ... Geh lieber schnell ins Bett."
Sie blinzelt in den Abfluss, legt die Zahnbürste auf den Badewannenrand und huscht (immer noch mit einem Schaumberg am Mund)  ins Bett. Sehr gut. Das Kind zugedeckt. Das Licht aus. Perfekt. Harrison Ford, ich komme.
Auf dem Weg zum Fernseher fallen mir die Chipskrümel auf dem Boden auf - und das zerfetzte Papier der Tüte. Peppi (ein besonders dämlicher und verharmlosender Name für den verschlagenen und dickbäuchigen Terrier) glotzt unbeteiligt aus seinem Hundekorb. Die Chips sind futsch. Ägerlich. Aber egal.  Der Bladerunner jagt gerade seinen ersten Replikanten. Es ist diese riesige Frau mit dem flammend roten Haar. Dann steht Lilli im Türrahmen.
"Ich kann nicht schlafen ... weil ... weil... vielleicht kommt der Mann im Rohr doch noch."
"Ach was, der ist bestimmt gerade bei deiner Freundin Nathalie."
"Und wenn er da fertig ist ... ? Ich hab ganz viele Rohre im Zimmer. Ich hab Angst."
Es ist zum Verrücktwerden. In der Küche finde ich zwei Teelöffel.
"So du nimmst jetzt den Löffel, und dann klopfen wir zusammen die Rohre in deinem Zimmer ab. Das wirst du schon hören, wenn da einer drin ist."
Lilli nickt. Ich robbe auf den Knien durch ihr Zimmer und klopfe mit dem Löffel herum. Sie auch. Kling.Klang.Kling. Nach einer Ewigkeit sind wir fertig. Kein Mann im Rohr da. Lilli ist sehr zufrieden. Dann klingelt es an der Haustür. Es ist ein tätowierter Zwei-Meter-Mann, unrasiert, mit einem löchrigen T-Shirt, auf dem ein schießender  US-Panzer abgebildet ist.
"Wat is´n dat hier für `n Krach? Ick sitz da oben und hör hier dauernd dat Geschepper in den Rohren. Hackts hier bei euch?"
"Wir hatten Probleme mit der Heizung." Es ist keine Lüge. Definitiv nicht.
"Der Krach hört uff, klar?", mault er mich an. Seine Eckzähne sind riesig und gelb. Ich prüfe die Möglichkeit einer körperlichen Auseinandersetzung und verwerfe sie genauso schnell.
"Wir suchen doch nur den Mann im Rohr", ruft Lilli von hinten.
"Mann im Rohr? Macke oder wat? Ick bin der Mann von eens drüber, und ick mach jetze richtich Ärger. Legt euch hinne. Ick muss morgen früh raus."
"Mann, ich wollte doch nur Blade Runner sehen ... ."
Der Riese guckt mich mit großen Augen an.
"Läuft der jetze?"
"Science Fiction Channel. Ja."
"Hab ick nich." Er linst über meine Schulter. "Würd ick ja  jerne mal wieder gucken, echt."
Fünf Minuten später sitzt er auf dem Sofa. Neben ihm lungert der verräterische Peppi, in der Schnauze die letzten Reste der Chipstüte. Aus den Augenwinkeln sehe ich noch, wie der Blade Runner zweimal seine Waffe abfeuert. Es ist zum Heulen.
Das eigentliche Drama geht nun im Bad weiter. Lilli kontrolliert den Abfluss im Waschbecken.
"Wenn der Mann im Rohr da jetzt doch drin ist und nur wartet?"
Ich weiß nicht, ob sie mich nur ärgern will oder es ernst meint. Es spielt auch keine Rolle. Dieses Kind muss ins Bett, egal wie. Hinter der Toilette liegt ein Werkzeugkasten. Wasser abdrehen und mit der Kneifzange das Rohr unter der Spüle aufdrehen. Das geht schnell. Lilli hockt neben mir und blinzelt in das Rohr. Ich leuchte mit einer Kugelschreiberlampe hinein.
"Kein Mann da. Bist du jetzt zufrieden?"
Sie nickt. Schweigend geht sie ins Bett und zieht sich die Decke über den Kopf.
"Und wenn der Mann im Rohr doch irgendwann mal  zu mir kommt?"
"Dann schlägst du mit dem Löffelchen auf dem Rohr so lange rum, bis der Riese von oben kommt. Der hilft dir schon."
"Na gut."
Drüben im Wohnzimmer läuft der Showdown. Ein ermatteter Bade Runner liegt mit seinem Kontrahenten zusammengesackt auf dem Dach eines Hochhauses. Ein paar Takte später ist der Film zuende. Der Riese steht auf und geht.
"Is einfach `n geiler Film. Hat richtich jut jetan. Juti, wa, vielen Dank, wa. Ick penn jetze ne Runde."
Und weg ist er. Meine Dose Red Bull hat er ausgetrunken. Peppi liegt ermattet und vollgefressen in seinem Korb. Lilli schläft. Ich bin fertig.
Und irgendwo in der Nähe höre ich aus einem Rohr das blecherne Lachen eines Mannes.

PLATZEN

9/23/2013

 

ESST, ESST, BIS IHR PLATZT...

Bild


Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, der es schafft, ein ganzes Mars im Stück zu vertilgen. Bis heute. Peter ist ein großer Mensch. Aber auch schwer. Die einzigen Muskeln, die er unermüdlich und leidenschaftlich bewegt, sind in seinem Kiefer.
Kauen. Zerstampfen. Wegschlucken.
Wir haben uns heute Morgen am Helmholtzplatz verabredet. Zum Brunchen. Claudine stellt mir ihren Ex-Freund vor.  Peter ist schon ganz aufgeregt. Er schüttelt meine Hand hektisch, blickt mir nicht ins Gesicht und durchforstet stattdessen lieber die Umgebung nach Nahrung. Immer wieder schiebt er sein Hemd in die Hose. Die unteren Knöpfe kriegt er sowieso nicht mehr zu. Sein Bauch ist ein festlich gespanntes Zelt . Ein wackelnder Geigerzähler, der bei besonders kalorienhaltiger Nahrung wild vibriert. Er kneift die Augen zusammen. Er ist ein Jäger. Und er hat Hunger. Großen Hunger.
"Also, mal sehen. Da drüben kostet der Brunch 12,50 Euro.  Zu wenig Fleich. Ist also nix.  Da drüben gibt´s was für 9,50 Euro, aber die Beilagen taugen nichts. Viel zu viel Obst. Sowas mag ich nicht. Die da nehmen 11 Euro. Kann ich nur empfehlen. Bouletten, Nudeln und Würste und dann noch Tiramisu als Nachtisch. Da gehen wir hin. Man braucht ja auf dem Teller ´n bisschen was zum Spielen."
Er beendet seinen Vortrag mit einem lauten und disharmonischen Lachen und schiebt seinen Bauch über die Straße. Wir folgen ihm.
"Das war mal dein Freund? Ich fass es nicht. Wirklich nicht", flüster ich Claudine im Gehen zu.
"Der war mal ganz schlank. Und außerdem waren wir nur ein halbes Jahr zusammen."
"Und danach hat er seinen Kummer in zweihundert Litern flüssiger Schokolade ertränkt?"
Claudine schweigt. Endlich, nach all der Zeit, habe ich an ihr eine Schwäche entdeckt, die sie nicht vertuschen kann. Peters innere Werte müssen ja gewaltig sein - zumindest wenn ich sie ins Verhältnis zu seiner Leibesfülle setze.
Im Restaurant hat er sofort die volle Übersicht. Er greift sich den Tisch, der am nächsten zum Buffet steht. Er lacht schon wieder.
"Ist der beste Platz hier. Von hier aus können wir in die Küche gucken. Dann sehen wir gleich, wenn wieder was Neues kommt. Da sind wir die ersten am Buffet.  Ist das A und O - könnt ihr mir glauben ... "
Er zwinkert uns mit seinen kleinen Augen fröhlich zu. Claudine senkt beschämt den Kopf.
"Da hat er Recht, der Peter, oder ?", rufe ich ihr in einem Anfall von Verrätertum zu.
"Aber so was von ... ", raunt uns Peter kauend über den Tisch zu.
Claudine knirscht nur mit den Zähnen. Am liebsten würde sie sich eine Serviette über ihr Gesicht hängen, so peinlich ist es ihr.  Es ist ein herrlicher Moment, den ich mir ganz, ganz fest einpräge für später , wenn die Tage wieder dunkler werden.
In der folgenden halben Stunde galoppiert Peter mit vollendeter Eleganz das Buffet hoch und runter. Er tänzelt um den Bohnensalat herum, dreht Pirouetten um die Bouletten, balanciert Melonenscheiben auf seinen ausgestreckten Armen und dabei lässt er den erschöpften Koch in der Küche nicht eine Sekunde aus den Augen.
Ich bin schon nach einer halben Portion Milchreis erledigt. Das kann Peter gar nicht verstehen. Das lässt er auch nicht zu. Er greift in die Tasche seines Jacketts und zieht eine Zitrone heraus.
"Jetzt nicht schlappmachen. Wenn der Magen voll ist, einfach an einer Scheibe Zitrone kauen. Das regt die Magensäure an. Dann ist das Völlegefühl weg, und es geht wieder was rein ... Könnt ihr mir glauben."
Ich glaube es ihm. Sofort.  Dennoch streckt er mir immer wieder die Zitrone über den Tisch. Irgendwann beiße ich genervt rein. Ich will es mir nicht mit meinem neuen Verbündeten verscherzen.
"Warum habt ihr euch damals eigentlich getrennt?" , frage ich und habe größte Schwierigkeiten, die Worte mit meiner übersäuerten Zunge zu formulieren.
Claudine knurrt etwas Unverständliches und zeigt mir die Zähne. Sie presst die Lippen so hart dagegen, dass das Rot ihres Lippenstiftes Spuren auf dem weißen Zahnschmelz hinterlässt. Einen Moment lang sieht sie aus, als hätte sie an einem schamanischen Heilungsritual der Duga-Indianer teilgenommen.
"Das passte irgendwie nicht", zischelt sie mich von der Seite an.
"Ist mir nicht leichtgefallen, mich damals zu trennen. Echt nicht."  Peter quetscht die Sätze zwischen dem Schwänzchen einer Makrele hervor, das auf seiner Zunge auf- und abwippt.
"Er hat sich von dir getrennt?",  frage ich Claudine.
"Das ist fünfzehn Jahre her."
"Na und? Passiert ist es trotzdem."
Peter lauscht dem Dialog mit großer Freude. "Na, Claudinechen hatte damals auch ein paar mehr Gramm auf den Rippchen. Mich hat`s ein bisschen gestört".
Er fährt seine Handflächen in der Luft aus, um wie ein Angler rein imaginär die Größe eines Walfischs anzudeuten.  "War `ne andere Zeit. Heute wär mir das egal", sagt er, beugt sich mit seinen dicken Bäckchen nach vorne und zwinkert Claudine zu.
Sie zappelt unruhig auf dem Stuhl herum.  Natürlich. In einer solchen Situation weiß man ja nie, was eine Ex-Liebschaft noch so alles auspackt. Als draußen, vor dem Restaurant, eine silbergraue Mercedes-Limousine vorfährt, lehnt sie sich entspannt an die Lehne ihres Stuhls zurück und atmet mit Erleichterung die Luft aus. Peter registriert den Wagen aus den Augenwinkeln.
"Oh, ich muss los, zum Flughafen.  Jetzt geht´s wieder ab nach Frankfurt. Ich muss zu ´ner Aktionärsversammlung. Stinklangweilig, aber das Essen ist echt `ne Pracht. Das lohnt sich."
Er erhebt sich mit einem Ächzen vom Stuhl, greift nach einer Serviette und legt ein paar Cremebällchen vom Buffet hinein . Vorsichtig, ganz vorsichtig verstaut er die Beute in seiner Jackettasche. "Marschproviant", ruft er uns noch einmal fröhlich zu, dann ist er verschwunden.
Auf dem Nachhauseweg schweigt Claudine. Sie starrt auf ihre Schuhspitzen und kneift die Lippen zusammen.  Wie eine geschlagene Jeanne D`arc ist sie vom Schlachtfeld des Buffets von dannen gezogen - auf ihrer Rüstung Fettspritzer und Spuren von Schokoladentorte. Es ist ein wundervoller Moment.
Ich frage mich, wie es wohl gewesen wäre, wenn sie mit Peter zusammen geblieben wäre. Vielleicht hätten sich die beiden zum Ausklang eines jeden Abends Sahne in die weit geöffneten  Münder gespritzt  und sämtliche Pizzaboten der Stadt verschlissen.
Ich versuche, mein Lächeln herunterzuschlucken. Zu spät. Sie sieht es.
"Ich kenn dich. Ich weiß genau, was du denkst. Ich kann es fast riechen.  Ich empfehle dir,  jetzt einfach mal den Mund zu halten - sonst ist hier Riesenärger im Anmarsch, klar?"  
Ich schweige. Aber es ist das beste Schweigen, dass es jemals auf der Welt gab  - und von allen Welten, die da noch kommen.
Jede Wette.

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