HALBNACKTE NACHBARN VERSTEHEN KEINEN SPASSErst riecht es ein bisschen wie Schinken, der geräuchert wird. Fast schon lecker. Dann wie verbrannte Milch und am Schluss einfach nur wie schnöder Rauch. An der Wohnungstür wummert eine fremde Faust und dazu röhrt eine Männer-Stimme durch den Hausflur: "Feuer. Alle raus hier. Feuerrrr…" Dann geht das Geklopfe an der Wohnungstür nebenan weiter. "Feuerrrr …" Über mir trappeln Schritte, Türen werden aufgerissen, im Hausflur poltert es.
Die Vintage-Uhr mit den riesigen Ziffern auf Petras Nachttisch behauptet, dass es 5 nach 12 ist. Passt dramaturgisch durchaus zur Feuer-Szene. Ich liege in einem fremden Bett, eingewickelt in buntfröhlicher Herr der Ringe-Bettwäsche, von der mich ein mürrischer Gandalf anstarrt. Auf Petras Peppi, den intriganten Jack Russel Terrier, soll ich aufpassen. Der mag dich doch so. Ich aber kann den hechelnden Stinker mit dem verschlagenen Blick nicht ausstehen. Wäre meine Wohnung nicht mit nervengiftfreundlicher Farbe frisch gestrichen worden und hätte ich danach nicht das Gefühl gehabt, durch einen lecken Atomreaktor zu wanken - ich würde jetzt nicht in diesem fremden Bett liegen. Zu spät. Jetzt sitzen wir beide in der Feuerhölle, Peppi und ich. Ein Blick in den Hinterhof: Überall sind die Lichter an. Feine Rauchschwaden ziehen in den Nachthimmel. Wenigstens sehe ich keine züngelnden Flammen. Aber von allen Seiten sind aufgeregte Stimmen zu hören: "Hast du die Unterlagen? Die Kinder… die Kinder …" Ich kenne praktisch alle 70er Jahre-Katastrophenfilme - wenn einer die Mieter in Sicherheit bringen kann, dann bin ich es mit meinem unheimlichen Fachwissen. Das Superhelden-Gen in mir pulsiert. Peppi, mein hündischer Sidekick, wird sich durch die Flammenhölle schnüffeln, und wir werden ihm folgen. Kein Zweifel. Eine kleine Gemeinschaft von Menschen, die im 72. Stock eines Wolkenkratzers umgeben von lodernden Flammen, um ihr Leben kämpft - so was habe ich hunderte Male gesehen. Genau mein Ding. Und als echter Katastrophen-Fan weiß ich, dass es nur um eines geht: Lässig und entspannt bleiben. Gut Aussehen in der Flammenhölle, nachher ärgert man sich ja doch nur, wenn man hysterisch war. Jeans an, Hemd drüber, Schuhe schnüren. Peppis Leine ist verschwunden. Macht nichts. Den Ledergürtel aus der Hose ziehen, ran ans Halsband und los. Peppis irritiertem Blick weiche ich aus. Im Gehen kommen mir Zweifel. Müsste ich nicht die liebsten Stücke aus Petras Wohnung retten? Aber was nur? Die Farb-Fotos von ihrer Hochzeit mit dem Bassisten einer schwedischen Band? Die Ehe hielt sieben Monate, bevor Lasse fremde Liebesschwüre hauchend und an seinen Saiten zupfend mit einer 17jährigen in nördlichen Gefilden untertauchte. Bringt nichts. Vielleicht aber die selbstgestrickten Lampenschirme, die lustlos von der Decke baumeln. Oder Petras roter Lieblingsmantel, den sie schon seit 15 Jahren trägt und aus dem sie kummerspecktechnisch doch langsam herausgewachsen ist. Nein, Peppi muss reichen. Nach dem Öffnen der Wohnungstür zeigt sich mir der Blick in ein unwirkliches Paralleluniversum. Menschen in Bademänteln ziehen wie eine Geisterarmee durch das Treppenhaus. Ein dicklicher Typ mit weißem Unterhemd schleppt einen riesigen Kontrabass durchs Haus und sieht dabei einfach nur dämlich aus. Seit dem Untergang der Titanic müsste er doch wissen, dass die Musiker bis zum Schluss bleiben. Tut er aber nicht. Zwei Kinder werden in Schlafanzügen mit dem Aufdruck nagender Igel an mir vorbeigezerrt. Peppi starrt mich an, als erwarte er von mir eine umfassende Analyse der Situation. Am Gürtel gezerrt und runter. Jetzt ist nicht die Zeit für Worte. Unten angekommen, zähle ich ich 16 Menschen. Es ist hochspannend. 16 Menschen, die um diese Uhrzeit üblicherweise verborgen und sicher hinter ihrer Wohnungstür leben. Von Petra weiß ich, dass es in ihrem Haus einen Lehrerüberschuss gibt. Und tatsächlich, eine dürre Kreischerin mit Goldrandbrille kommandiert ihre Kinder herum wie ein routinierter General: "Sei still, Jan. Gib Ruhe, Lisa. Schluss jetzt. Stellt euch an die Wand." Weiter hinten steht ein glatzköpfiger Herr in einem dunkelblauen Bademantel, auf dem ich die weiße Stickerei eines Hotels erkennen kann. Derselbe Name ist auf seinen Pantoffeln zu entziffern. Aha, wieder einer dieser Kleinkriminellen, der heimlich Tonnen von Seifestückchen aus den Hotels schleppt, aber diesmal hat er bei dem flauschigen Mäntelchen richtig zugeschlagen, ein echter Supercoup, lange vorbereitet von einem kriminellen Mastermind. Neben ihm nestelt seine Frau an einem metallischen Kasten herum. Weil es mich interessiert, trete ich einen Schritt näher an sie heran. Eine hellgraue Geldkassette mit Haltegriff. Tatsächlich. So eine hatte meine Oma mal. Ich hätte nicht gedacht, dass es die Dinger noch gibt. Die Frau bemerkt meinen Blick, also frage ich nach: "Da ist nicht wirklich ihr Geld, drin oder?" "Na, was glauben Sie denn. Meinen Sie, ich traue `ner Bank?" Sie hängt ein meckerndes Lachen an ihre Frage. "Nee, nee… die sperren die Konten sowieso bald, dann ist alles futsch." Sie beugt sich vor. "Eurokrise, verstehen Sie?" Das verstehe ich. Trotz des Katastrophenszenarios gibt es hier noch echte Insidertips von einem Wirtschaftsweisen in Baumwoll-Nachthemd und plüschigen Hausschuhen. Sowas merke ich mir. Kann nicht schaden. Weiter hinten läuft ein Rentner mit einem monströsen Hörgerät im Ohr herum. Immer wieder schlägt er mit der flachen Hand auf seine Ohrmuschel, als würde er eine Bongotrommel bearbeiten. Knisterknisterrauschrausch. In so einer Situation braucht man alle Sinne. Kann ich gut verstehen. Je älter man wird, desto eher hängt man zäh wie Teer am Leben. Hinter mir drängelt sich eine junge blonde Frau im überlangen weißen T-Shirt (ein moderner Nachthemd-Ersatz für hippe Studentinnen) und grünen Asics-Sportschuhen durch die Menge. "So´n Scheiß. Ich hab morgen Prüfung und jetzt steh ich hier rum. Scheiße ist das." Ich nicke ihr zu. "Welcher Assi, war das denn?", schimpft sie in die Runde. Darauf hat die " Lehrerin" nur gewartet. Sie wird flankiert von einem ebenso dürren Mann mit Seitenscheitel, wahrscheinlich auch Lehrer. Sie zeigt auf die Hausfassade: "Das ist der Haschischraucher im Dritten. Das sehe ich doch." Ich zerre meine Zigarillos aus der Hosentasche, stecke mir eine an und betrachte die Fassade. "Woher wollen Sie das wissen? Ich kann den Rauch nicht zuordnen." "Weil ich das eben weiß. Das war der Haschischraucher." Sie nickt sich selbst zu, und der dürre Seitenscheitelträger macht mit. "Definitiv der Haschischraucher." Synchron wie zwei Trinkvögel heben und senken sie ihre Köpfe und tuscheln sich etwas zu. "Wer sind Sie denn überhaupt?", fragt der Dürre, ruckelt an seiner Brille herum - und ganz nebenbei wirft er der Blonden im weißen T-Shirt einen dieser verborgen lustvollen Blicke zu, wie ihn nur Oberstudienräte im zwanzigsten Ehejahr zustande bringen. "Ich bin ein Gast." Die zwei betrachten mich wie Inquisitoren, die gleich zupacken werden, um mich auf ihren Scheiterhaufen zu werfen - angeheizt ist er ja schon. Durchaus praktisch. Zwischenzeitlich kaut Peppi vor Langeweile auf meinem Gürtel herum und uriniert eine ordentliche Lache auf den Bürgersteig, die sich wie ein unüberwindbarer Fluss zwischen mir und der Kreischerin auftut. Danke, Peppi. "Ein Gast sind sie, ja? Aber sie kennen doch hier niemanden, da können sie doch gar nicht urteilen." Zufrieden blicken sich die beiden an. "Muss ich auch nicht. Aber der Rauch ist für mich trotzdem nicht zuzuordnen." "Finden Sie das nicht geschmacklos, dass Sie hier unten stehen und eine Zigarette rauchen, wenn es da oben brennt", brüllt mich die Kreischerin an, und ihre Hammerzehen wackeln in den Gesundheitsschuhen ganz aufgeregt hin und her. "Es ist ein Zigarillo, und ich kann keinen Zusammenhang erkennen." Nun quetscht sich auch noch ihr speckiger Sohn durch die Menge, so ein ca. 12jähriger Klugscheißer, der noch Chipskrümel am Mund hat. Mamis kleiner Helfer streckt seinen gut gepolsterten Finger aus und zeigt auf mein Zigarillo: "Da kann man von sterben." Mutti tätschelt seinen Kopf. "Ja, ganz genau, Jan." "Warum legen Sie sich nicht in ihr brennendes Bettchen und überlegen, wie sie die Welt retten können? " Ich zeige auf das rauchende Haus. "Würde mir gut gefallen. Sehr gut sogar." Die Augenbrauen der Kreischerin verwandeln sich in empörte Rundbögen, die ihr fast bis zum Haaransatz reichen. Ihr zartes Spitzennachthemd wiegt sich im Wind. Der Dürre stößt pfeifend die Luft aus. Bevor sie antworten können, ist die Feuerwehr da. Funkgeräte knistern. Blaulichter rotieren, und ein grauhaariger Mann mit Helm löst das Rätsel dieser Nacht: "Schwelbrand im 4. OG rechts." "Was? das ist doch die Wohnung vom Frank." "Der raucht doch gar nicht." "Der Frank, ach ... das kann ich gar nicht glauben." "Also, nein ... der Frank." Die Kreischerin und der Dürre blicken sich mit traurigen Augen an. Die hübschen Vorurteile, sauber sortiert und durchaus gefällig vorgetragen - alles für die Katz. Ärgerlich. "Sicher steckt der Frank mit dem Haschischraucher unter einer Decke. Ich habe da so ein Gefühl ..." Der sachliche Klang meiner Stimme erstaunt mich selbst - er entfacht eine herrliche Wirkung. Der Dürre presst die Lippen aufeinander. Die Kreischerin ballt die Fäuste bis ihre Knöchel knirschen. Beide wenden sich wortlos ab und verschwinden tuschelnd in der Menge. Irgendwann werden sie den Haschischraucher schon erwischen. In dieser Nacht hat es nicht geklappt. Schade. Dann eben morgen. Zusammen mit Peppi setze ich mich vor einen Hauseingang auf der anderen Seite der Straße. Das Gewusel dort drüben erinnert mich an Flammendes Inferno mit Paul Newman - nur eben mit fünfklassiger Besetzung - und wir beide spielen sowieso nicht mehr mit. "Bin ich froh, dass ich hier nicht wohnen muss." Empört und mit großen traurigen Augen schaut mich Peppi an. "Sorry, Kumpel. Tut mir leid. Aber manchmal reicht das Glück eben nur für einen." Wär ja auch noch schöner. |