Meine Freundin Claudine ist der einzige mir bekannte Mensch, der in vier unterschiedlichen Oktaven lachen kann. Sie schnarrt, japst und gluckst - dabei klingt sie wie ein John Deere-Traktor, der kurz vor dem Auseinanderfallen steht. „Irre. Komplett irre“, ruft sie mir immer wieder über den Rand ihrer Teetasse zu. Was Sie erheitert? Eine Leserin hat sich bei mir gemeldet. Die machen das recht häufig, und das sollen sie auch. Ich habe Spaß daran. Meist. Diese Leserin aber hat in mir einen Feind der Gesellschaft enttarnt. Ein Monstrum, das sich in einer menschlichen Hülle verbirgt. Diese Geschichte beginnt mit ihrem Mann, der mein Buch gekauft hat. Hätte er das doch bloß nicht getan: Deutsche Omas werden von ihren Enkelkindern über die Feiertage an Angelhaken aufgehängt, weil sie die Methodik meines Serienmörders kopieren. Ich selbst habe als Kind mit Begeisterung Modellflugzeuge zusammengebastelt. Sicher hätte ich mich einer Erweiterung dieser Idee nicht verschlossen. Kreativität kann nur bewusstseinsfördernd sein.
„Lade die Frau doch mal zu ˋnem Punsch ein.“ Claudine lässt einen Zuckerwürfel in ihre Tasse fallen. Er versinkt in der rabenschwarzen Brühe. „Mal sehen, was das für eine ist.“ „Exzellente Idee. Vielleicht umarmen wir uns auf dem Weihnachtsmarkt unter einer Tanne und teilen uns Mandelkekse.“ Und später, viele Jahre später, wird sie mir zuraunen: „Du, weißt du noch ... damals ... diese Sache mit dem Angelhaken?“ Ohne Leser sind Autoren nichts. Wir gehören zusammen. Kaugummi pappt auch von allen Seiten, wenn wir ihn aus dem Mund nehmen. Übellaunige Verwandte sind da eben auch im Paket. Und das muss auch so sein. Lehrreich ist es immer. Ein Leser hat mir einmal meinen ersten Thriller zurückgesandt - mit ausführlichen Anmerkungen am Rand. Er schlug mir verbesserte Tötungsmethoden mit diversen Maschinen vor. Um seinen interessanten Ideen (wie er meinte) Nachdruck zu verleihen, malte er sogar kleine Skizzen aufs Papier. Mit Kugelschreiber. Und mit festem, mit sehr festem, Andruck des Stifts. Ich musste sein Gekritzel mit einer Lupe entziffern, und war dann doch über den besonderen Detailreichtum seiner Konstruktionen erstaunt. Womöglich handelte es sich um einen pensionierten Ingenieur, der sich die stillen Stunden seines Rentnerdaseins versüßte. Klar, auf den verfluchten Tanztee im Altenheim hatte er null Lust. „Komm, wir gehen einen Glühwein kippen.“ Claudine schlägt die Tasse auf meinen Tisch, der daraufhin heftig vibriert. „Wir wummern uns schön was in den Kopf.“ „Machen wir.“ Ich stehe ohnehin auf Realitätsfilter, die meinen stressigen Dezember in Watte packen. Gerne auch so viel, bis ich daran ersticke. Ich wünsche euch schöne Feiertage. Und ... tut mir den Gefallen - passt um Himmelswillen auf eure Omas auf. Nur so. WOVOR AUTOREN WIRKLICH ZITTERN - DAS GEHEIMNIS DES GRAUEN GREIFERSTatsächlich hat sich bei mir eine befreundete Autorin über ihr Publikum bei Lesungen beschwert. "Die haben die Aldi-Tüten noch unterm Arm und hängen sich dann bei mir zum Dösen ab. Bei meiner Lesung. Das glaubst du nicht. Und gekauft haben die auch nichts. Und nur blöde Fragen gestellt. Einer hat sogar ’ne Thunfischdose aufgemacht und mit einer Plastikgabel in der Dose rumgestochert."
Ich mag ja solche Geschichten. In Berlin, und darum geht es hier, ist alles immer ein bisschen anders - und von mir aus darf ein Zuhörer auch mitten in der Lesung sein Bierchen zischen. Stört mich nicht. Ist echt, und muss vielleicht auch so sein. Tatsächlich aber sind mir seit meinen “Federspiel-Lesungen”, so unterhaltsame Charaktere begegnet, dass ich von Berlin über Braunschweig und von Leipzig bis nach Linz ein ganz eigenes Kuriositätenkabinett habe. Anschnallen. Da sind sie: Zuhörer, die Autoren zum Zittern bringen: Der graue Greifer: Er ist mindestens achtzig, kommt nach der Lesung zu mir und packt beide meiner Hände: “Sie haben zu viele Gedanken da oben drin. (deutet auf meinen Kopf) Da müssen Sie aufpassen.” Klingt wie eine Drohung. Meine Hände hält er immer noch. Stahlgraue Augen kleben an mir. “’n guter Freund von mir ist auch so wie Sie. Jetzt hat er Alzheimer.” “Tut mir leid.” Er presst meine Hände noch stärker. “Im Rollstuhl sitzt er auch.” Ich knirsche mit den Zähnen. Meine Finger kriege ich immer noch nicht frei. “Und er ist inkontinent. Hat so ein Beutelchen am Rollstuhl. Muss er überall mit hinnehmen.” Er lässt meine Hände wie ein ungeliebtes Kuscheltier fallen, knöpft sich seine Weste zu und schreitet zur Tür hinaus. “Schönen Abend wünsche ich Ihnen noch.” “Danke.” Er lässt mich zurück. Einfach so. In meinem Kopf trudeln die Bilder von meinem zerfallenen Körper in einem Rollstuhl auf und ab. Keiner will mich schieben. Und ja, natürlich … auch dieses verdammte Beutelchen. Widerlich und prall gefüllt schaukelt es vor meinem inneren Auge herum. Erst nach zwei Stunden in einer Bar verliert die Vorstellung ihre unangenehme Schärfe. Und manchmal, nur noch manchmal … denke ich daran. Immer noch viel zu oft. Der graue Greifer kann überall lauern. Die tierische Traumtänzerin: Bücher zu signieren kann Spaß machen. Ich freue mich, wenn jemand irgendeine besondere Auffälligkeit hat, die ich in einer Widmung unterbringen kann. Die Rentnerin mit ihren silberfarbenen Sportschuhen, die sie wie eine pensionierte Astronautin wirken lassen. Oder das Mädchen, das ihre Haare zu einer kunstvollen Bananenfrisur aufgetürmt hat, die ich am liebsten zum Einsturz bringen möchte. Und dann kommt sie: Eine ernst wirkende Dame, mit dem Hauch einer Oberstudienrätin. Sie beugt sich vor und flüstert: “Können Sie mir bitte in die Widmung eine Eule reinmalen?” Ganz ernst meint sie es. Als ob ich mein ganzes Leben lang nachts in raschelnden Wäldern verbracht hätte, um die Gewohnheiten nächtlicher Raubtiere auszuspitzeln. “Geht nicht auch eine Ente? Die kriege ich vielleicht noch hin.” “Also … nein, es muss schon eine Eule sein. Ich lasse mir immer eine Eule reinmalen.” Wie machen die anderen das denn? Haben die Schablonen? Oder üben sie das Eulen- Malen vorher, weil die Dame in der Szene berüchtigt ist? Ich male. Ich schwitze. Die Schlange hinter der Dame wird immer länger. Der Schnabel meiner Eule ähnelt einem verbogenen Kleiderbügel. Die Krallen hängen wie freudlos fallendes Lametta herab. Das überambitionierte Gekritzel eines Kleinkinds: Eine Eule wie aus dem Labor für besonders abscheuliche Mutationen, geboren aus einem lecken Atommeiler. Aber, bitte - fertig. Die Dame betrachtet die Zeichnung und lächelt. “Schön.” Sie nimmt das Buch und schlägt die blanken Seiten am Ende auf. “Und hier hinten dann bitte die Ente.” Kurzum: Ich bin nunmehr in der Lage, auf Befehl Giraffen, Eulen, Nilpferde und Wasserbüffel zu zeichnen. Ganze Zoos, wenn es sein muss. Ich bin da sehr folgsam. Das gute Gothic-Girl: Sie sitzt in der zweiten Reihe und schluchzt. Ganz leise. Ich höre es trotzdem. Sie ist weiß geschminkt. Ihr Blechschmuck klirrt bei jedem Wort - an Nase, Mund und Ohr. Einmal senkt sie sogar den Kopf und holt ganz tief Luft, dabei wischt sie sich mit der Hand über beide Augen. Es irritiert mich. Während ich den Text wie ein Sprachroboter weiterlese, rast mein Hirn zurück über die Textpassagen und sucht die Stellen, die theoretisch einen Weinkrampf auslösen können. Ich finde nichts, blinzel aber über meinen Buchrand. Da - ihre Unterlippe zittert. Ganz leicht nur. Aber ich sehe es. Nach der Lesung kommt sie zu mir und drückt mich. Dabei versenkt sie ihr Gesicht in mein weißes Hemd und schluchzt noch einmal mit Nachdruck. “Tschuldigung, ich musste immer an meine Schwester denken, als du die Stellen von der Henriette vorgelesen hast. Wir haben uns mal gestritten. Is ’n paar Jahre her. Ich ruf sie vielleicht doch mal an.” Dann geht sie fort. Klirrend, mit flatterndem schwarzen Haar, und hohen Stiefeln. Meine alte Freundin Claudine steht neben mir und tippt mir gegen die Brust: “Guck mal, die hat dir mit ihrer Wimperntusche ein richtiges Kunstwerk ins Hemd geflennt. Sieht aus wie ein Rohrschachmuster.” Sie klopft noch einmal dagegen. “War ja klar, dass du solche Leute anziehst. Passt.” Passt. Klar. Warum auch nicht? Selbst nach dreimaliger Reinigung sind die schwarzen Schlieren im Hemd geblieben. Sieht aus, wie der in Heimarbeit entstandene Batik-Druck irgendeines Psychedelic-Freaks. Aber das ist in Ordnung. Sehr sogar. Am 2. Februar und am 16. März beginnen die Lesungen für das Hospital. Der zweite Februar in Berlin ist ausverkauft - aber wer mich in Potsdam besuchen möchte: Bitte sehr. Am 16. März lese ich im Maz Media Store bei Krimi Live: Friedrich-Ebert-Straße 85/86, 14467 Potsdam - um 19 Uhr geht es los. Ich bin sehr gespannt, wer diesmal durch die Tür kommt. Irgendwie passt das schon. Ganz sicher. www.olivermenard.de FEDERSPIEL: DER ALBTRAUM EINER HAUSMEISTERINALS DER POSTMANN NICHT MEHR KLINGELTE ...Claudines Gesicht ist eine starre Maske. Ausgebreitet auf dem Küchentisch liegt eine weiße Samtbluse, die zweifelsfrei als Oberteil für ein verwöhntes Prenzlauer Berg-Kleinkind durchgehen könnte. Claudine streichelt den Stoff und flüstert mit zitternden Lidern: "Das will ich nicht glauben. Das kann ich einfach nicht glauben." Im Takt der Worte bröckelt der Lippenstift in kleinen Krümeln von ihrer Unterlippe ab. "Das ist ein Tiefschlag vor dem Fest. Das Ende …"
Ihre Trauer ist nur vergleichbar mit der Beisetzung einer Urne. Darunter gibt es keine Entsprechung. "Was hast du denn? Ist das ein Geschenk für deine kleine Nichte?" Es erscheint mir im Angesicht der babyartigen Ausmaße des Kleidungsstückes plausibel. Mit dem tosenden Orkan aus Claudines Rachen habe ich nicht gerechnet. Ihr Gaumensegel flattert vor Empörung: "Spinnst du? Das ist meine Lieblingsbluse. Diese blonde Zicke in der Reinigung hat sie einfach eingehen lassen." Sie schwenkt den weißen Stoff wie eine Fahne über ihren Kopf. "Das hat die mit Absicht gemacht. Die ist richtig böse. Ein schlechter Mensch ist das. Richtig, richtig schlecht ..." Fast steigen Tränen in ihren riesigen Augen auf. "Das war… meine Lieblingsbluse. Mir ist ganz übel vor Aufregung." "Die passt wirklich nicht mehr?" Claudine wirft mir die Bluse gegen die Brust. "Klar, wenn ich vierzig Kilo leichter wäre und in einem Schrumpfstrahl gefangen wäre - dann schon." Sie kreuzt die Arme über ihrer Brust. "Wenn ich nicht so wütend wäre, dann würde ich jetzt heulen. Aber ich habe ja Würde." Die hat sie. Tränen wären mir allerdings lieber als die hochoktavigen Kreischtöne aus ihrem Mund. Ein friedvolles Schluchzen - die Weihnachtszeit würde es durchaus festlicher machen. Aber da ist nichts zu machen. Ihr zischelndes Gemurmel ignoriere ich. Auf der Küchenspüle entdecke ich die Post des Tages - und ganz oben liegt ein zerknitterter Zettel: Zustellversuch gescheitert. Schon wieder. Eigentlich so, wie immer. "Warst du gestern den ganzen Tag hier?" Claudine blickt mich aus seelenlosen Augen an. "Klar. Und ich werde deine Wohnung nie wieder verlassen, so fertig bin ich." "Das heißt, der Postmann hat wieder nicht geklingelt?" "Nö, hat er nicht." Natürlich nicht. Warum auch die ganzen Treppen hochlaufen? Warum klingeln? Es geht doch auch viel einfacher. Sollen die Leute doch selbst ihre Päckchen jagen und bei Nachbarn klingeln, die grundsätzlich ihre Tür nach 18 Uhr nicht mehr aufmachen. Oder besser noch: In der Dunkelheit zu einer ominösen Packstation wandern, vor der sich hunderte verlorene Seelen versammeln und in einem wimmernden Chor um ihre Päckchen flehen - ungehört. Erst vor fünf Tagen habe ich an einer Ecke einen Paketzusteller gesehen, der feist und fröhlich hinter seinem Lenkrad saß. Auf dem Beifahrersitz lagen aufgerissene Schokoriegel. Aus dem Radio dudelte ein Rock´n Roll Sender. Der Kerl klammerte sich an seinem Lenkrad fest, zerkaute seine Haselnusswaffeln und wippte den rockigen Takt mit seinem prallen Gesäß mit. Kurz darauf füllte er mit einem Kuli seine Zettelchen aus, die er mit beschwingtem Gang in den Briefkästen versenkte. Treppen mit Päckchen hochlaufen? Nein. Und so einer ist meiner womöglich auch: "Das geht mir echt auf die Nerven. Ich habe mir ein Amazing Spider-Man No 3 bestellt. Aus den Sechzigern. Ich will das Comic jetzt haben. Jetzt - auf der Stelle. Ich kann nicht mehr warten. Ich brauch das sofort." In meiner Nase spüre ich den Duft des vergilbten Recyclingpapiers. Vor Ärger wird mir ganz warm. Claudine betrachtet meine Aufregung mit seltsamen Interesse. Sie erhebt sich aus dem knirschenden Ledersessel und kommt ganz nah auf mich zu. Fast berühren sich unsere Nasen. "Wetten, dass ich den Postmann dazu bringen kann, die Päckchen künftig hier oben abzuliefern?" Fast muss ich lachen. "Ohne Waffen?" "Klar. Ohne Waffen." Sie sagt es so selbstverständlich, dass es wie eine reine Provokation klingt. "Bitte, dann mach mal." "Und was machst du für mich?" Ich verstehe ihre Frage nicht. Was soll ich tun? Ihre Bluse auf eine Streckbank legen oder mir Wolle besorgen und ihr ein hübsches neues Jäckchen stricken? Eingelaufen ist nun mal eingelaufen. Zum Glück liefert sie die Antwort selbst. "Du verkaufst meine alten Klamotten auf dem Flohmarkt, und von dem Geld hole ich mir eine neue Bluse. Wenn ich verliere, sortiere ich alle deine Comics." Alle Comics.Wirklich alle. Das würde Tage dauern. Der Nerd in mir jubelt. Dann aber jagen hässliche Bilder durch mein Hirn: Ich stehe in der winterlichen Kälte auf einem Flohmarkt. Feuchtigkeit kriecht durch meine Klamotten. Vor mir, auf einem alten Tapeziertisch, liegen Röcke, kaputt gelaufene Stiefel und freizügige, durchgelebte Oberteile. Ich rede auf Prenzlauer Berg-Muttis ein, um ihnen auch noch das letzte durchgeschwitzte Hemdchen aus Claudines Schrank zu verhökern. Mir ist übel. Das kann ich nicht bringen. Es geht einfach nicht. "Also … nein…" "Nein?" "Auf keinen Fall." "Feigling. Los jetzt, wir wetten." EIN KURZER INFORMELLER BREAK Der Nachteil bei alten, langjährigen Freundschaften liegt in der mathematisch absolut exakten Berechenbarkeit des Gegenübers - fast so zuverlässig wie ein binäres Zahlensystem. Ich lasse mich nicht einen Feigling nennen, und Claudine weiß es. In der Vergangenheit hat das zwischen uns zu Wetten geführt, die uns körperlich ausgelaugt und um Jahre gealtert zurückgelassen haben. Ich hätte hart bleiben sollen - und was nun folgt, ist mein letzter Ratschlag in diesem ausklingenden Jahr: Lasst die Finger von blöden Wetten mit Frauen, die um jeden Preis gewinnen wollen. UND WEITER GEHT ES Claudine streckt mir ihre Klaue entgegen. Ihre French Nails zerfetzen mir fast die Haut im Innern meiner Hand, so fest drückt sie zu, als ich einschlage. In den nächsten sechs Tagen habe ich die Wette fast vergessen. Die Aufregung um Bluse und Postmann ist nur noch ein grauer Schatten der Erinnerung im stressigen Weihnachtstrubel. Eine Woche später aber sitze ich in meinem Arbeitszimmer. Es klingelt an der Tür. Ich höre, wie Claudine öffnet. Womöglich ist es eine ihrer Freundinnen. Nach einer Weile vernehme ich Stimmen aus der Küche. Da ist das freudvolle Lachen eines Mannes. Er sitzt an meinem Küchentisch. In seiner Glatze spiegeln sich die Lichter der Weihnachtsdeko. Über seinem kugelrunden Bauch hängt eine abgetragene Daunenweste. Vor ihm steht mein zwanzig Jahre alter Rum, den er sich wie Milch ins Glas kippt. Er hat schon ganz rote Bäckchen. Claudine sitzt ihm gegenüber in einem T-Shirt mit V-Neck Ausschnitt, das ihr fast bis zum Bauchnabel reicht. Sie klatscht ihre Handflächen ineinander, als würde sie mich wie einen stumpfsinnigen Hund anlocken wollen. "Das ist der Rudolf. Er ist extra die ganzen Treppen mit den Päckchen hochgekommen." Ihr Gesicht hat einen triumphierenden Ausdruck. Ihre dunklen Augenbrauen tanzen vor Freude wie Strichmännchen über ihre Stirn. "Neulich war er auch schon hier." Rudolf nickt. Claudine nickt - so synchron, als hätten sie es abgesprochen. Aber tatsächlich liegen dort zwei Päckchen neben der Spüle. Da sind sie wieder, die scheußlichen Bilder vom kalten Flohmarkt. Rudolf kippt sich das Glas in den Rachen. Mit seiner übergroßen Zunge leckt er auch noch den Rand ab. Wie eine wohlgefällige, dicke Monsterspinne hat er sich in meiner Küche ein kunstvolles Netz gebaut. In mein Schweigen nistest sich die eisige Kälte des Nordpols ein. Es stört Rudolfs Besinnlichkeit. "Na, ich muss jetzt mal langsam los…" sagt er. Klar. Langsam. Ganz langsam. Bloß keine übermäßige Hektik. Als er die Treppen herunterschleicht, denke ich darüber nach, wie er jetzt womöglich mit einem Packen Zustellzetteln in den Hauseingängen verschwindet. Schwuppdiwupp - rein in die Briefkästen, und weiter geht es. Die verloren gegangene Zeit muss ja wieder reingeholt werden - und Rudi ist sicher ein Meister dieses vorweihnachtlichen Kunststückchens. Ich bin so wütend, da interessieren mich die Fakten ohnehin nicht mehr. Claudine jubelt. Sie klatscht in die Hände und brüllt wie in einer Fernsehshow, die wir alle mal alle kannten : "Wette gewonnen … GEWONNEN!" "Das ist eine Riesensauerei. Du hast es mit Sex provoziert und auch noch meinen Rum verschwendet. Und außerdem kriegen jetzt noch weniger Leute ihre Päckchen, weil dein Rudi jetzt erst recht keine Zeit mehr hat." "Na und?" Auf ihren High Heels stakst Claudine auf mich zu. "Freundchen, gewonnen ist gewonnen. Klar? Bitte sehr, mein Kleiderschrank wartet schon auf dich." Vollmundig und töricht. Die Liste meiner Unzulänglichkeiten ließe sich noch um unbelehrbar, starrsinnig und unverbesserlich ergänzen. Mein Kopf war so riesig und von sich selbst eingenommen, dass ich nicht für eine Sekunde mit einer Niederlage gerechnet habe. In der Nacht kann ich vor Wut nicht einschlafen. Die beruhigende Wirkung meiner original Anti-Stress-Wachskerze versagt. Mit der flachen Hand schlage ich das Licht aus. Wenigstens bekomme ich jetzt meine Päckchen häufiger in die Wohnung geliefert. Wenigstens das. Es ist nicht viel, aber es macht die Flohmarkt-Demütigung etwas erträglicher. Aber natürlich ist auch das nur ein Selbstbetrug, den ich in meiner Selbstnachsichtigkeit zulasse. Am nächsten Morgen prüfe ich den Tapeziertisch in meinem Keller. Das alte Ding ist an den Scharnieren eingerostet und alles andere als flohmarkttauglich. Auch das noch. Ich verlasse meinen Keller in einer Welle der Übellaunigkeit und komme an den Briefkästen vorbei. Eine blonde, dürre Frau mit militärisch kurzem Haar klebt ein mir wohl bekanntes Zettelchen unter einen Briefschlitz. "Aber … aber… wo ist denn der Rudi?" Sie stoppt in der Bewegung. Ihr Blick über die Schulter ist kurz, empört und mit einem schwermütigen Seufzen garniert. "Na, wo soll er schon sein? Zusammenjeklappt isser. Umjehauen hat's den. Bis in die Nacht hat er malocht. Der janze Stress, is doch keen Wunder. Der jeht im neuen Jahr in 'nen anderen Bezirk. Is och besser so. Schönet Fest noch." Der Gang hinauf zu meiner Wohnung kommt mir endlos vor. Dort, auf dem Stuhl vor dem Küchentisch, hat er mal gesessen. Ich hätte Rudi besser pflegen sollen. Ein Postmann will auch mal in den Arm genommen werden in dieser kalten Zeit. Und mal ein Gläschen Rum, wer will ihm das schon vorwerfen? Jetzt ist es zu spät. Rudi wird neue Freunde finden, denen er gerne die Päckchen zu kunstvollen, pisa-esken Gebilden in der Wohnung aufstapelt. Kinder werden ihm lachend zuwinken und Hausfrauen seine Ankunft mit bebendem Herzen erwarten. Auf Rudi ist Verlass. Mit gebeugtem Rücken ziehe ich an meiner Wohnungstür vorbei. Ein Zettel mit krakeliger Handschrift hängt dort: "Habe schon sieben Kartons mit Klamotten zusammen. Wahnsinn, was ich noch alles gefunden habe. C." Das wird ein tolles neues Jahr. Die Zeichen sind eindeutig. Und falls ihr im Januar einen schlotternden Typen auf einem Berliner Flohmarkt seht - umgeben von Kleidern, kaputt getanzten Lederstiefeln und absonderlichen Hüten - sicher würde er sich über ein Deckchen oder ein Heißgetränk freuen. Frohes Fest !!! HALBNACKTE NACHBARN VERSTEHEN KEINEN SPASSErst riecht es ein bisschen wie Schinken, der geräuchert wird. Fast schon lecker. Dann wie verbrannte Milch und am Schluss einfach nur wie schnöder Rauch. An der Wohnungstür wummert eine fremde Faust und dazu röhrt eine Männer-Stimme durch den Hausflur: "Feuer. Alle raus hier. Feuerrrr…" Dann geht das Geklopfe an der Wohnungstür nebenan weiter. "Feuerrrr …" Über mir trappeln Schritte, Türen werden aufgerissen, im Hausflur poltert es.
Die Vintage-Uhr mit den riesigen Ziffern auf Petras Nachttisch behauptet, dass es 5 nach 12 ist. Passt dramaturgisch durchaus zur Feuer-Szene. Ich liege in einem fremden Bett, eingewickelt in buntfröhlicher Herr der Ringe-Bettwäsche, von der mich ein mürrischer Gandalf anstarrt. Auf Petras Peppi, den intriganten Jack Russel Terrier, soll ich aufpassen. Der mag dich doch so. Ich aber kann den hechelnden Stinker mit dem verschlagenen Blick nicht ausstehen. Wäre meine Wohnung nicht mit nervengiftfreundlicher Farbe frisch gestrichen worden und hätte ich danach nicht das Gefühl gehabt, durch einen lecken Atomreaktor zu wanken - ich würde jetzt nicht in diesem fremden Bett liegen. Zu spät. Jetzt sitzen wir beide in der Feuerhölle, Peppi und ich. Ein Blick in den Hinterhof: Überall sind die Lichter an. Feine Rauchschwaden ziehen in den Nachthimmel. Wenigstens sehe ich keine züngelnden Flammen. Aber von allen Seiten sind aufgeregte Stimmen zu hören: "Hast du die Unterlagen? Die Kinder… die Kinder …" Ich kenne praktisch alle 70er Jahre-Katastrophenfilme - wenn einer die Mieter in Sicherheit bringen kann, dann bin ich es mit meinem unheimlichen Fachwissen. Das Superhelden-Gen in mir pulsiert. Peppi, mein hündischer Sidekick, wird sich durch die Flammenhölle schnüffeln, und wir werden ihm folgen. Kein Zweifel. Eine kleine Gemeinschaft von Menschen, die im 72. Stock eines Wolkenkratzers umgeben von lodernden Flammen, um ihr Leben kämpft - so was habe ich hunderte Male gesehen. Genau mein Ding. Und als echter Katastrophen-Fan weiß ich, dass es nur um eines geht: Lässig und entspannt bleiben. Gut Aussehen in der Flammenhölle, nachher ärgert man sich ja doch nur, wenn man hysterisch war. Jeans an, Hemd drüber, Schuhe schnüren. Peppis Leine ist verschwunden. Macht nichts. Den Ledergürtel aus der Hose ziehen, ran ans Halsband und los. Peppis irritiertem Blick weiche ich aus. Im Gehen kommen mir Zweifel. Müsste ich nicht die liebsten Stücke aus Petras Wohnung retten? Aber was nur? Die Farb-Fotos von ihrer Hochzeit mit dem Bassisten einer schwedischen Band? Die Ehe hielt sieben Monate, bevor Lasse fremde Liebesschwüre hauchend und an seinen Saiten zupfend mit einer 17jährigen in nördlichen Gefilden untertauchte. Bringt nichts. Vielleicht aber die selbstgestrickten Lampenschirme, die lustlos von der Decke baumeln. Oder Petras roter Lieblingsmantel, den sie schon seit 15 Jahren trägt und aus dem sie kummerspecktechnisch doch langsam herausgewachsen ist. Nein, Peppi muss reichen. Nach dem Öffnen der Wohnungstür zeigt sich mir der Blick in ein unwirkliches Paralleluniversum. Menschen in Bademänteln ziehen wie eine Geisterarmee durch das Treppenhaus. Ein dicklicher Typ mit weißem Unterhemd schleppt einen riesigen Kontrabass durchs Haus und sieht dabei einfach nur dämlich aus. Seit dem Untergang der Titanic müsste er doch wissen, dass die Musiker bis zum Schluss bleiben. Tut er aber nicht. Zwei Kinder werden in Schlafanzügen mit dem Aufdruck nagender Igel an mir vorbeigezerrt. Peppi starrt mich an, als erwarte er von mir eine umfassende Analyse der Situation. Am Gürtel gezerrt und runter. Jetzt ist nicht die Zeit für Worte. Unten angekommen, zähle ich ich 16 Menschen. Es ist hochspannend. 16 Menschen, die um diese Uhrzeit üblicherweise verborgen und sicher hinter ihrer Wohnungstür leben. Von Petra weiß ich, dass es in ihrem Haus einen Lehrerüberschuss gibt. Und tatsächlich, eine dürre Kreischerin mit Goldrandbrille kommandiert ihre Kinder herum wie ein routinierter General: "Sei still, Jan. Gib Ruhe, Lisa. Schluss jetzt. Stellt euch an die Wand." Weiter hinten steht ein glatzköpfiger Herr in einem dunkelblauen Bademantel, auf dem ich die weiße Stickerei eines Hotels erkennen kann. Derselbe Name ist auf seinen Pantoffeln zu entziffern. Aha, wieder einer dieser Kleinkriminellen, der heimlich Tonnen von Seifestückchen aus den Hotels schleppt, aber diesmal hat er bei dem flauschigen Mäntelchen richtig zugeschlagen, ein echter Supercoup, lange vorbereitet von einem kriminellen Mastermind. Neben ihm nestelt seine Frau an einem metallischen Kasten herum. Weil es mich interessiert, trete ich einen Schritt näher an sie heran. Eine hellgraue Geldkassette mit Haltegriff. Tatsächlich. So eine hatte meine Oma mal. Ich hätte nicht gedacht, dass es die Dinger noch gibt. Die Frau bemerkt meinen Blick, also frage ich nach: "Da ist nicht wirklich ihr Geld, drin oder?" "Na, was glauben Sie denn. Meinen Sie, ich traue `ner Bank?" Sie hängt ein meckerndes Lachen an ihre Frage. "Nee, nee… die sperren die Konten sowieso bald, dann ist alles futsch." Sie beugt sich vor. "Eurokrise, verstehen Sie?" Das verstehe ich. Trotz des Katastrophenszenarios gibt es hier noch echte Insidertips von einem Wirtschaftsweisen in Baumwoll-Nachthemd und plüschigen Hausschuhen. Sowas merke ich mir. Kann nicht schaden. Weiter hinten läuft ein Rentner mit einem monströsen Hörgerät im Ohr herum. Immer wieder schlägt er mit der flachen Hand auf seine Ohrmuschel, als würde er eine Bongotrommel bearbeiten. Knisterknisterrauschrausch. In so einer Situation braucht man alle Sinne. Kann ich gut verstehen. Je älter man wird, desto eher hängt man zäh wie Teer am Leben. Hinter mir drängelt sich eine junge blonde Frau im überlangen weißen T-Shirt (ein moderner Nachthemd-Ersatz für hippe Studentinnen) und grünen Asics-Sportschuhen durch die Menge. "So´n Scheiß. Ich hab morgen Prüfung und jetzt steh ich hier rum. Scheiße ist das." Ich nicke ihr zu. "Welcher Assi, war das denn?", schimpft sie in die Runde. Darauf hat die " Lehrerin" nur gewartet. Sie wird flankiert von einem ebenso dürren Mann mit Seitenscheitel, wahrscheinlich auch Lehrer. Sie zeigt auf die Hausfassade: "Das ist der Haschischraucher im Dritten. Das sehe ich doch." Ich zerre meine Zigarillos aus der Hosentasche, stecke mir eine an und betrachte die Fassade. "Woher wollen Sie das wissen? Ich kann den Rauch nicht zuordnen." "Weil ich das eben weiß. Das war der Haschischraucher." Sie nickt sich selbst zu, und der dürre Seitenscheitelträger macht mit. "Definitiv der Haschischraucher." Synchron wie zwei Trinkvögel heben und senken sie ihre Köpfe und tuscheln sich etwas zu. "Wer sind Sie denn überhaupt?", fragt der Dürre, ruckelt an seiner Brille herum - und ganz nebenbei wirft er der Blonden im weißen T-Shirt einen dieser verborgen lustvollen Blicke zu, wie ihn nur Oberstudienräte im zwanzigsten Ehejahr zustande bringen. "Ich bin ein Gast." Die zwei betrachten mich wie Inquisitoren, die gleich zupacken werden, um mich auf ihren Scheiterhaufen zu werfen - angeheizt ist er ja schon. Durchaus praktisch. Zwischenzeitlich kaut Peppi vor Langeweile auf meinem Gürtel herum und uriniert eine ordentliche Lache auf den Bürgersteig, die sich wie ein unüberwindbarer Fluss zwischen mir und der Kreischerin auftut. Danke, Peppi. "Ein Gast sind sie, ja? Aber sie kennen doch hier niemanden, da können sie doch gar nicht urteilen." Zufrieden blicken sich die beiden an. "Muss ich auch nicht. Aber der Rauch ist für mich trotzdem nicht zuzuordnen." "Finden Sie das nicht geschmacklos, dass Sie hier unten stehen und eine Zigarette rauchen, wenn es da oben brennt", brüllt mich die Kreischerin an, und ihre Hammerzehen wackeln in den Gesundheitsschuhen ganz aufgeregt hin und her. "Es ist ein Zigarillo, und ich kann keinen Zusammenhang erkennen." Nun quetscht sich auch noch ihr speckiger Sohn durch die Menge, so ein ca. 12jähriger Klugscheißer, der noch Chipskrümel am Mund hat. Mamis kleiner Helfer streckt seinen gut gepolsterten Finger aus und zeigt auf mein Zigarillo: "Da kann man von sterben." Mutti tätschelt seinen Kopf. "Ja, ganz genau, Jan." "Warum legen Sie sich nicht in ihr brennendes Bettchen und überlegen, wie sie die Welt retten können? " Ich zeige auf das rauchende Haus. "Würde mir gut gefallen. Sehr gut sogar." Die Augenbrauen der Kreischerin verwandeln sich in empörte Rundbögen, die ihr fast bis zum Haaransatz reichen. Ihr zartes Spitzennachthemd wiegt sich im Wind. Der Dürre stößt pfeifend die Luft aus. Bevor sie antworten können, ist die Feuerwehr da. Funkgeräte knistern. Blaulichter rotieren, und ein grauhaariger Mann mit Helm löst das Rätsel dieser Nacht: "Schwelbrand im 4. OG rechts." "Was? das ist doch die Wohnung vom Frank." "Der raucht doch gar nicht." "Der Frank, ach ... das kann ich gar nicht glauben." "Also, nein ... der Frank." Die Kreischerin und der Dürre blicken sich mit traurigen Augen an. Die hübschen Vorurteile, sauber sortiert und durchaus gefällig vorgetragen - alles für die Katz. Ärgerlich. "Sicher steckt der Frank mit dem Haschischraucher unter einer Decke. Ich habe da so ein Gefühl ..." Der sachliche Klang meiner Stimme erstaunt mich selbst - er entfacht eine herrliche Wirkung. Der Dürre presst die Lippen aufeinander. Die Kreischerin ballt die Fäuste bis ihre Knöchel knirschen. Beide wenden sich wortlos ab und verschwinden tuschelnd in der Menge. Irgendwann werden sie den Haschischraucher schon erwischen. In dieser Nacht hat es nicht geklappt. Schade. Dann eben morgen. Zusammen mit Peppi setze ich mich vor einen Hauseingang auf der anderen Seite der Straße. Das Gewusel dort drüben erinnert mich an Flammendes Inferno mit Paul Newman - nur eben mit fünfklassiger Besetzung - und wir beide spielen sowieso nicht mehr mit. "Bin ich froh, dass ich hier nicht wohnen muss." Empört und mit großen traurigen Augen schaut mich Peppi an. "Sorry, Kumpel. Tut mir leid. Aber manchmal reicht das Glück eben nur für einen." Wär ja auch noch schöner. GOODBYE SHIRLEY: WAS DIE KLEINE AMERIKANERIN ÜBER DIE DEUTSCHEN DENKT"Boah, stinkt ja wie im Puff, dit Zeuch. Wat issn det?"
Mehmet der Taxifahrer blickt über seine Schulter. Auf seiner Stirn haben sich sieben Falten gebildet, die an mannshohe Wellen bei stürmischer See erinnern. Tschup-Tschup - da kommt schon die nächste Stinke-Wolke. Neben mir auf der Rückbank sitzt Shirley, die amerikanische Deutschlehrerin aus North-Dakota. Immer wieder drückt sie mit dem Zeigefinger auf einen Plastik-Zerstäuber in Herzform. Schwaden aus blumigen Dämpfen breiten sich in dem Taxi aus. Shirley kennt keine Gnade. Stoisch wie eine seelenlose Maschine presst sie den Zerstäuber nach unten. "Das ist rosewater ... ", sagt sie und streckt ihr Kinn herrisch vor. Mehmet hat gleich zwei neue Falten auf der Stirn. "Roswat ...?" "Rosenwasser." Tschup-Tschup. Mehmet ringt um Luft. "Also ... können se dit mal lassen? Ich hab hier noch andere Kundschaft nach Ihnen." Shirleys wasserblondes Haar ist so brutal hochtoupiert, dass es gegen den Wagenhimmel schlägt. Die raschelnden Geräusche erinnern mich an einen fegenden Besen. Sie beugt sich ein Stückchen vor. "Ich bezahl doch für die Fahrt. Das ist meine Sache. Understand … ? Außerdem stinkt es hier nach Rauch." Tschup-Tschup. "Also sagen se Ihrer Freundin, wenn die nich uffhört, schmeiß ich sie beide raus." Mehmet klatscht mit seinen behaarten Riesenhänden auf dem Lenkrad herum. Es klingt wie ein bedrohlicher Trommelwirbel vor einem Finale. Tschup-Tschup. Und gleich noch einmal: Tschup-Tschup. Ich kalkuliere die verbleibende Fahrtstrecke zum Flughafen Tegel. Wir brauchen noch fünf Minuten. Die könnte man auch zu Fuß gehen. Andererseits liegt im Kofferraum Shirleys Monster-Koffer, den ich im Zweifelfalle in der Hitze tragen müsste. Die Sache ist klar. Ich nehme ihr den Zerstäuber aus den Fingern. Sie schlägt zweimal mit der flachen Hand gegen die Kopflehne vor sich. Man mag es von Kindern kennen, denen man in der Buddelkiste die Schippe wegnimmt. Lässt mich komplett kalt. "Also, bei uns in the States gibt es so was nicht. Da sind die Taxi-Fahrer freundlich zu ihren Gästen. Was dem einfällt …", schimpft sie von der Rückbank. "Na, dann verpiss dich ma wieder da hin", meckert Mehmet leise zurück. Genau das ist der Plan. Shirleys Jahr als amerikanische Deutschlehrerin in Berlin ist vorbei. Sie kehrt nach North Dakota zurück. Es sind nur noch wenige Meter bis zum Flughafen Tegel. "Mach ich auch", schimpft sie in Mehmets Richtung zurück und fletscht ihre kleinen mausartigen Zähne. "Was ist denn das für ein Land hier?" Weil niemand die Frage beantworten will, übernimmt sie es gleich selbst. "Ihr zieht zuhause bunte Hausschuhe an, eure Polizisten sind dick und überall laufen am Strand nude people rum. Aber bei 30 Grad tragt ihr immer noch Stiefel, und wenn man nur mal vor die Haustür geht, wird man gleich beklaut." Sie reicht mir ein braunes Lederportemonnaie herüber, in das Fransen und indianisch anmutende bunte Strippen eingearbeitet sind. Sieht aus wie eine Solidaritätsbörse für ethnische Minderheiten. Politisch sehr korrekt. "Mach auf", fordert sie. Mach ich. "Es ist leer." "Siehst du? Alles weg. Kreditkarten, Bibliothekenausweis … alles stolen. Haben die mir im Park geklaut, und einen Tag später lag es meinen Briefkasten." Im Rückspiegel sehe ich Mehmets Augen, in denen ein fröhlicher Funke glüht. "Warum haben die es dir dann überhaupt in den Briefkasten gelegt?" Ich öffne das Fach für Scheine, und darin liegt ein kleiner Zettel, auf dem etwas mit Kugelschreiber gekritzelt wurde. Ha Ha. Du Opfer. Ich schätze den allgegenwärtigen Humor, der in Prenzlauer Berg wie ein strenger Patriarch herrscht. Allgegenwärtig und dennoch unerwartet. Wir erreichen den Flughafen. Die Fahrt kostet rund 23,- Euro. Shirley reicht Mehmet 25,- Euro herüber. "Der Rest ist tip ... Trinkgeld", ihre Stimme klingt sachlich, aber ihr Kinn ist schon wieder herrisch hervorgestreckt. Mehmet gibt ihr die zwei Euro zurück und an mich gewandt sagt er: "`n Bisschen Würde hab ick och noch. Ach ja ... und viel Glück." Dann fährt er mit seiner elfenbeinfarbenen Kutsche davon. Am Schalter nach Frankfurt ist einiges los. Sofort fallen mir die drei Frauen auf, die neben einer Säule stehen und die Arme hochreißen, als sie Shirley sehen. Es wird geküsst, geherzelt und umarmt. "Die sind aus meiner Bibel-Gruppe", ruft mir Shirley zu. Dann wird weiter umarmt und geküsst - bis zur Atemlosigkeit. Die Frauen sind mir unheimlich. Sie wirken auf seltsame Weise uniformiert. Alle drei haben den Körperbau eines Pandabären (ähnlich dem von Shirley) , schwere Brillen und Playmobilfrisuren. "Das sind Shannon, Cameron und Liz. Die sind auch für ein Jahr in Germany", ruft mir Shirley zu. Die drei nicken synchron, und in ihren Brillen brechen sich die seitlich einfallenden Sonnenstrahlen zu einem unwirklich reflektierten Heiligenschein. Besonders Liz fällt mir durch ihre übertriebene Fröhlichkeit auf. Sie zwinkert mir zu. Ihr rötliches Haar und die Sommersprossen erinnen ein wenig an Peppermint Patty, die nervende Freundin von Charly Brown. Sie ist es dann auch, die mit dem Fuß dreimal auf den Boden klopft Es ist ein heimliches Signal für Eingeweihte: Zunächst erklingt aus den drei Frauenmündern ein tiefer Brummton, der einem zornigen Teddy-Bären nicht unähnlich ist - und dann wird gesungen. Mit aller Kraft: "My Lord, hear my prayers, I´m a kind soul, please let me be by your side." Wäre ich ein Sammler von besonders peinlichen Momenten, dann würde ich mir dieses Prunkstück sofort in meine Vitrine stellen. Die drei werden immer lauter, ihre Münder sind weit aufgerissen. Passend dazu klatschen sie mit ihren Händen den Takt und bewegen ihre Oberkörper wie Pendel hin und her. "Ohhhhhhh ...", Shirley ist so gerührt, dass dicke Tränen über ihre geschminkten Wangen plätschern. Neben mir bleiben ein paar Leute stehen. Eine Blonde auf High Heels schaut mich an, als wolle sie checken, ob ich womöglich Teil dieser Gruppe bin. Einem animalischen Überlebensinstinkt folgend, wende ich mich von dem Trio ab. Shirley greift in ihrer emotionalen Aufruhr nach meiner Hand. Es gibt keinen Ausweg mehr. Und jeder sieht es. Ein Typ mit Baseballkappe guckt mich über den Rand seiner Sonnenbrille an und schüttelt nur den Kopf. Nach vier Minuten ist der Singsang vorbei. Die drei beklatschen sich selbst. Dann wird wieder geherzelt und geküsst. Von meiner Stirn tropfen dicke Schweißperlen. Nun umarmt mich Shirley auch noch einmal zum Abschied. Ihr Haar knistert wie Zuckerwatte vor meinem Mund. Sie blickt mich aus ernsten Augen an. "Wenn ich dir mal was schicken soll ... wenn du irgendwas brauchst ... call me ..." Na, das weiß ich doch sehr zu schätzen. Deutschland ist ja als Krisengebiet bekannt. Milchpulver und Tütensuppen könnte ich gut gebrauchen. Warme Decken wären auch nicht übel. Oder mal ein schönes Stückchen Seife ... Ein paar Minuten später ist Shirley hinter dem Counter der Fluggesellschaft verschwunden. Noch einmal winkt sie uns zu, dann verschwindet sie in der Menschenmenge. Nur ihre wasserstoffblonde Turmfrisur ist noch eine ganze Weile zu sehen. Das christliche Frauen-Trio aus Amerika blickt ihr wehmütig nach. Da geht sie hin. Sie hat es geschafft, das Jahr in der Hölle zu überleben, die Glückliche. Man könnte es aus ihren Augen lesen. Ich hingegen fühle mich ganz gut. Die Zeit mit Shirley war durchaus belebend und aufregend - aber vor allen Dingen ist sie vorbei. (Alle Geschichten haben einen Anfang - und den gibt es hier und hier.) Beim Herausgehen fragt mich Peppermint Patty: "Willst du mal in unsere Bibelgruppe kommen? You´re invited." "Ach, ich weiß nicht. Diese Sache mit Gott ..." Sie macht nur eine wegwischende Handbewegung. "Du, das kriegen wir schon hin. Trust me." Daran habe ich keinen Zweifel. Draußen scheint die Sonne. Ich laufe drei Runden um den Flughafen-Parkplatz herum, immer im Kreis, bis ich sicher bin, dass das Frauen-Trio in einem Bus verschwunden und die Maschine nach Frankfurt in der Luft ist. Goodbye Shirley. |